Kriege, Klimakrise und Rechtsextremismus – die Demokratie befindet sich im Krisenmodus. Die Politikwissenschaftlerin und Autorin Sophie Pornschlegel führt die herrschende Unordnung und Instabilität auf ein überholtes gewaltvolles Verständnis von Macht zurück. Ihr Buch „Am Ende der gewohnten Ordnung“ ist auch ein Appell: Wir brauchen ein neues Machtverständnis, auf dessen Grundlage wir Allianzen und Solidaritätsbewegungen bilden können.

„Wir merken, dass sich die Welt verändert und dass die Stabilitätsanker, die wir einmal hatten, nicht mehr da sind“

herCAREER: Wie ist unser heutiges Verständnis von Macht?

Sophie Pornschlegel: Ich erlebe ein regressives, machiavellistisches Verständnis von Macht, eine individualistische Ellenbogenmentalität. Entsprechend verbinden viele Menschen Macht mit etwas Negativem – das ist sicherlich auch ein Grund für die aktuelle Politikverdrossenheit. Dabei gehen viele Menschen mit dem Ziel in die Politik, Einfluss und Gestaltungsmacht zu erlangen, um Dinge zum Positiven zu verändern.

herCAREER: Du schilderst zu Beginn deines Buches, dass wir uns in einer Zeit der Unsicherheit befinden, in der die „alte Ordnung“ an ihr Ende gelangt ist, wir aber noch keine Idee haben, wohin wir uns bewegen. Kannst Du das näher erläutern?

Wir stellen gerade fest: Unsere Demokratie ist in der Krise, unsere Wirtschaft ist nicht nachhaltig gestaltet; über allem schwebt eine nicht umkehrbare Klimakrise. Das erinnert an das „Interregnum“, das der italienische Antifaschist Antonio Gramsci Ende der 1920er beschrieb – eine Zeit,  . Wir merken, dass sich die Welt verändert und dass die Stabilitätsanker, die wir einmal hatten, nicht mehr da sind – nur noch wenige glauben daran, dass die Politik Frieden, Wohlstand und Sicherheit gewährleisten kann oder Menschenrechte verteidigt, wenn im Mittelmeer so viele Flüchtlinge sterben. Wir befinden uns in einer Transformationsphase, aber wir arbeiten weiterhin mit politischen Konzepten und Systemen aus dem 20. Jahrhundert, die immer weiter an ihre Grenzen kommen, je weiter sich die Krisen entfalten und multiplizieren.

herCAREER: Wir befinden uns also am „Ende der gewohnten Ordnung“. Wie zeigt sich das in der Weltpolitik?

Der Westen ist nicht länger das Maß aller Dinge – das ist sicherlich eine massive Veränderung. Damit verliert auch die multilaterale Ordnung, wie wir sie kennen, an Kraft – inzwischen spricht man von einer „multipolaren“ Weltordnung, in der sich verschiedene regionale Pole gebildet haben. Institutionen wie die UNO, die bisher stark westlich geprägt waren, verlieren an Einfluss. Andere Länder – allen voran China und Indien – haben in diesen Foren an Macht hinzugewonnen beziehungsweise nutzen sie für ihre eigenen Interessen aus. Währenddessen steckt Europa in einer Wertekrise und lässt Ungarn – aber auch andere Länder wie Italien oder die Slowakei – demokratische Standards mit Füßen treten.

herCAREER: Und welche Ordnung endet in der Wirtschaft?

Das ist ein riesiges Thema. Wir müssen uns von dem falschen Gegensatz Planwirtschaft vs. Kapitalismus verabschieden – das ist eine Denkweise aus dem 20. Jahrhundert, die die heutigen Verhältnisse nicht mehr widerspiegelt. Fest steht, dass die gegenwärtige Form unserer Wirtschaftsordnung auf der Ausbeutung des Planeten und der Menschen beruht. Profitmaximierung steht über Mensch und Erde – und das muss umgekehrt werden. Für mich hat die ökologische Transformation oberste Priorität. Und zwar nicht punktuell, sondern langfristig, grundlegend und spürbar. Denn in wenigen Jahrzehnten werden wir Versorgungsengpässe und Wasserknappheit haben. Je länger wir so weitermachen wie bisher, desto schlimmer werden die Konsequenzen. Leider wird man bei solchen Aussagen sofort als alarmistisch abgestempelt – wir sind kollektiv nicht in der Lage, mit solchen Szenarien und unserer Angst umzugehen.

herCAREER: Wirtschaft und Politik sind seit jeher eng miteinander verbunden. In deinem Buch beschreibst du zum Beispiel eine neue Qualität der Lobbyarbeit von Tech-Konzernen. Was bedeutet es, wenn die Wirtschaft so viel Macht hat?

Es ist ein großes Problem für die Demokratie, dass Menschen oder Unternehmen mit sehr viel Geld inzwischen mehr Macht haben als demokratisch gewählte Vertreter*innen. Denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass diejenigen ohne Geld nichts verändern können. Die soziale Ungleichheit hat sich in den letzten Jahrzehnten verschärft. Finanzielle Macht ist hochproblematisch, weil sie die Politik korrumpiert und die Demokratie schwächt. Kein Elon Musk dieser Welt sollte die Möglichkeit haben, die digitale Öffentlichkeit zu kaufen und nach seinem individuellen Verständnis der “Meinungsfreiheit” zu verändern.

herCAREER: Wenn wir das noch einmal auf unser Machtverständnis übertragen, dann haben wir hier eine klare Hierarchie: Die Menschen und Länder mit den größten Ressourcen haben auch die größte Macht.

Genau. Wir leben aktuell in einer Welt, in der die sozialen Beziehungen in großen Teilen auf Unterdrückung oder Manipulation beruhen und nicht auf Kooperation. Im Englischen kann man das sehr schön ausdrücken: nicht „power to“ oder „power with“, sondern „power over“. Es gilt also, Macht über andere zu erlangen, und nicht etwa um kollektive Ermächtigung oder um konstruktiv in die Gestaltung zu gehen.

herCAREER: Spricht man über Gemeinschaft, Solidarität und Kooperation , kommt man nicht umhin, über Feminismus und Sisterhood nachzudenken. Mir ist aufgefallen, dass du den Begriff Matriarchat im Buch nicht verwendest. Warum nicht?

Ich glaube, Matriarchat ist kein Begriff, der hilfreich gewesen wäre, weil er gerne im gleichen Sinne wie Patriarchat verstanden wird.

herCAREER: Du meinst: Wir verstehen Matriarchat als eine Ordnung, die auf Konsens beruht und in der die Menschen im Sinne der Gemeinschaft handeln. Aber andere hören: „Frauen an die Macht“?

Genau. So wie der Feminismus tatsächlich nur gleiche Chancen für Männer und Frauen anstrebt und kein Männerhass ist. Mir geht es um Gleichheit. Deshalb kritisiere ich den aktuellen Hyperliberalismus sehr. Die Identitätspolitik lässt uns gerne vergessen, dass wir für die gleiche Sache kämpfen. Statt untereinander zu streiten, sollten wir verstehen, dass grundsätzliche Freiheiten wie das Abtreibungsrecht heute auf dem Spiel stehen. Um diese zu verteidigen, brauchen wir starke Allianzen und Solidaritätsbewegungen.

herCAREER: Die Gefahr für unsere demokratischen Werte ist real: Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die Kontrolle und Zensur der Medien in der Türkei oder das Abtreibungsverbot in den USA sind nur einige Beispiele. Ich glaube, viele Menschen fragen sich: Wenn Macht mit Gewalt konnotiert ist, wie kann man dann Macht ausüben, ohne auf Gegengewalt zurückzugreifen?

Das ist genau der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Was haben die USA mit der Eröffnung der Foltergefängnisse von Abu Ghraib und Guantanamo signalisiert? Dass man mit Gewalt Macht zementieren kann – ganz im Gegensatz zum Diskurs, dass die „westlichen Werte“ für Menschenrechte stehen. Damit haben sich die Vereinigten Staaten auf die Ebene der Taliban oder der Hamas herabbegeben. Dabei sollten wir gerade im Zuge von Terror und Gewalt mit Menschlichkeit und demokratischen Werten reagieren.

herCAREER: Um es mit Michelle Obamas Worten zu sagen: „When they go low  – we go high?“

Ganz genau.

herCAREER: Ich habe das Gefühl, dass dieser Wertedialog gerade im US-Wahlkampf stattfindet. Donald Trump feuert mit sexistischen, rassistischen und klassistischen Kommentaren und Kamala Harris kontert mit kollektiven Werten, dem Versprechen von Freiheit und Vielfalt. Wie erlebst du das?

Das ist aus meiner Sicht ein entscheidender Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern: Demokraten haben ein anderes Verständnis von Macht. So hat auch Biden – sicherlich ungern – seine individuelle Macht aufgegeben und Platz gemacht für eine Person, die vielleicht eine größere Chance hat, Gestaltungsmacht zu erlangen.

herCAREER: Was forderst du von den Akteur*innen in Wirtschaft und Politik?

Dass sie sich kritisch(er) mit ihrer Macht auseinandersetzen. Ich habe den Eindruck, dass zu viele Menschen in Machtpositionen nie darüber nachgedacht haben, wie sie Macht definieren und was sie damit erreichen wollen. Sie sind gefangen in ihren eigenen Interessen und dem Gedanken: Wie kann ich meine Macht erhalten oder vergrößern?

herCAREER: Gibt es Hoffnung, dass wir ein neues Machtverständnis in der Gesellschaft erlangen?

Wenn man sich die Welt im Moment anschaut, ist es leicht, die Hoffnung zu verlieren. Aber Pessimismus lähmt. Hoffnung dagegen ist ein Motor, sie spornt zum Handeln an. Entsprechend widerspreche ich Helmut Schmidt, der ja bekanntlich sagte, dass jemand mit Visionen zum Arzt gehen sollte. Wir brauchen heute mehr denn je  Zukunftsvisionen. Die europäische Gemeinschaft und anschließend die EU haben es seit 1945 geschafft, Frieden zwischen ihren 27 Mitgliedsländern zu schaffen, obwohl wir uns davor jahrhundertelang bekriegt haben. Diese Errungenschaften sind keine Selbstverständlichkeit. Dafür brauchen wir unermüdliches Engagement – in der Politik, in der Wirtschaft und in der Zivilgesellschaft.

herCAREER: Am Ende des Buches machst du den Schritt vom systemischen Problem zur individuellen Verantwortung. Wo kann ich als Einzelne*r ansetzen, um eine neue Ordnung mitzugestalten?

Hier muss ich Hannah Arendt frei zitieren, die gesagt hat: Sobald es soziale Beziehungen gibt, wird es Machtverhältnisse geben. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir Macht ausüben, egal in welcher privaten oder beruflichen Position wir uns befinden. Und das gilt noch mal besonders für Politiker*innen, Influencer*innen und Medienschaffende, aber auch für Führungskräfte, Lehrkräfte und ältere Geschwister. Das bedeutet, dass wir uns alle fragen müssen: Was will ich mit meiner Macht erreichen? Welche Welt möchte ich mit meinem Einfluss gestalten?

* Adam Gramsci in seinen „Gefängnisheften“: „Die Krise besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann: In diesem Interregnum treten die vielfältigsten morbiden Erscheinungen auf.“

Das Gespräch führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.

Über die Person

Sophie Pornschlegel arbeitet als politische Analystin in Brüssel. Sie ist Policy Fellow beim Progressiven Zentrum in Berlin, lehrt an der Sciences Po Paris und forscht zu Europapolitik und der Zukunft der Demokratie. Ihre publizistischen Beiträge erscheinen bei Deutschlandfunk Kultur, ZEIT Online, FAS und im Tagesspiegel. Im Frühjahr 2024 erschien ihr Buch „Am Ende der gewohnten Ordnung Warum wir Macht neu denken müssen. Eine kritische Analyse deutscher und internationaler Macht-Politik“ bei Droemer.

Am 17. Oktober spricht Sophie Pornschlegel, Autorin und politsche Analystin in Brüssel im Rahmen der herCAREER mit Kristina Appel, Journalistin im Bereich Chancengerechtigkeit und Frauen*. Das Podcast-MeetUp trägt dem Titel “Am Ende der gewohnten Ordnung: Warum wir Macht neu denken müssen“. Ort und Zeitpunkt finden Sie im Programm.