Wie kann man auf verschiedenen Wegen einen Mehrwert in der Gesellschaft schaffen? Bei ihrem Expert-MeetUp wird Ricarda Brandts anhand ihrer vielfältigen Erfahrungen in der Justiz und bei der UNO-Flüchtlingshilfe aufzeigen, wie das gehen kann. Sie war nicht nur eine der ersten Frauen in hochrangigen Führungspositionen an Gerichten, sondern ist auch eine der (noch zu wenigen) Frauen in leitenden NGO-Gremien. In ihrem Vortrag beschreibt sie, welche Fähigkeiten und Einstellungen ihr auf diesem Weg geholfen haben, und wie man es schafft, Sinn und soziale Verantwortung in Karriere und Ehrenamt zu verankern. herCAREER im Interview mit Dr. Ricarda Brandts, Vorstandsvorsitzende, UNO-Flüchtlingshilfe e.V.

„Meiner Meinung nach kann und sollte soziale Verantwortung in jedem Beruf eine Rolle spielen.“

herCAREER: Welche prägenden Erfahrungen hast du bei deiner Karriere in der Justiz und im NGO-Bereich gemacht, und welche Stärken waren dabei hilfreich für dich?

Dr. Ricarda Brandts: Eine der ersten prägenden Erfahrungen meines Berufslebens war das Glück, in der nordrhein-westfälischen Justiz auf Vorgesetzte zu stoßen, die mich im Zeichen einer aktiven Gleichstellungspolitik gefordert und gefördert haben. Als ich vor ca. 35 Jahren Richterin in der Sozialgerichtsbarkeit wurde, habe ich es als anspruchsvolle und ausfüllende Aufgabe angesehen, nah an den existenziellen Sorgen der Menschen zu sein und an der Lösung sozialer Probleme mitzuwirken. Das stand im Vordergrund, und ich dachte weder an die Übernahme anderer Aufgaben noch strebte ich Spitzenämter in der Justiz an.

Als mir als junge Richterin ziemlich rasch etwa das Amt der Pressesprecherin des Sozialgerichts, eine Dezernententätigkeit in der Gerichtsverwaltung und eine Abordnung in ein Ministerium als Referatsleiterin angeboten wurden, war ich nicht sofort begeistert. Schließlich bin ich aber aus Neugier immer wieder in das „kalte Wasser“ gesprungen. Mein Interesse an der Arbeit in der Gerichtsverwaltung, an Projekten der Justizreform, an neuen juristischen Fachgebieten und an der Wahrnehmung von Führungsverantwortung hat sich entwickeln können, weil mir einerseits Chancen geboten wurden. Andererseits waren es meine Stärken, immer wieder über meinen eigenen Schatten zu springen, flexibel und neugierig zu sein und mich mit Tatkraft und Begeisterung auf Neues einzulassen, auch wenn die nächsten Schritte der Karriere nicht unbedingt meinen ursprünglichen beruflichen oder privaten Interessen entsprochen haben. Diese Bereitschaft hat auch zu meinem heutigen ehrenamtlichen Engagement als Vorsitzende der UNO-Flüchtlingshilfe geführt.

herCAREER: Welche Möglichkeiten siehst du, im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit (ob in öffentlichen Ämtern, NGOs oder in der Wirtschaft) soziale Verantwortung einzubringen?

Dr. Ricarda Brandts: Meiner Meinung nach kann und sollte soziale Verantwortung in jedem Beruf eine Rolle spielen. In der Justiz ist man natürlich unmittelbar Staat und Gesellschaft gegenüber verpflichtet, aber auch die Wirtschaft trägt Verantwortung für die Menschen. Dies bringen viele Unternehmen auch durch die Entwicklung von Konzepten im Rahmen der Corporate Social Responsibility zum Ausdruck. Für eine humanitär tätige NGO steht die Übernahme von Verantwortung für den Schutz von Menschen und Umwelt geradezu im Mittelpunkt.  Aber in jedem Beruf sollte man sich fragen, was man dazu beitragen kann, soziale Probleme zu lösen und die Lebensqualität aller Menschen zu verbessern. Die Möglichkeiten sind vielfältig; sie beginnen mit der Solidarität am Arbeitsplatz, gehen über die Unterstützung von hilfsbedürftigen Menschen im persönlichen Umfeld und reichen bis zur Spende für wohltätige Zwecke oder zum persönlichen ehrenamtlichen Engagement.

herCAREER: Mit welchen (typischen) Widerständen ist zu rechnen, wenn man sich für gesellschaftlichen Mehrwert einsetzt, und wie können sie überwunden werden?

Dr. Ricarda Brandts: Ob man soziale Probleme erfolgreich lösen kann, hängt stark von der gesellschaftlichen Diskussion und Stimmung ab. War der Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland lange Zeit von einer starken Willkommenskultur geprägt, hat sich die Tonlage nun erheblich verschärft und hin zu einer kritischen, oft populistischen Sicht verschoben. Das macht uns von der UNO-Flüchtlingshilfe große Sorgen. Denn eins ist klar: Unabhängig davon, wie man sich in Deutschland positioniert, darf die lebensrettende Arbeit des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) nicht leiden. Das Schicksal von Millionen Geflüchteten steht auf dem Spiel. Deshalb muss der Flüchtlingsschutz weltweit gestärkt werden. Dafür setzen wir uns ein.

Über die Person

Ricarda Brandts ist Juristin und Vorstandsvorsitzende der UNO-Flüchtlingshilfe e.V. Sie hat in ihrer Karriere mehrere einflussreiche Ämter innegehabt und war Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs von Nordrhein-Westfalen.

1984 legte Ricarda die zweite juristische Staatsprüfung ab. Zunächst war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Lehrstuhl der Ruhr-Universität Bochum, dann begann sie 1988 ihre Karriere in der Justiz als Richterin am Sozialgericht Dortmund. Nach Etappen am Landessozialgericht NRW und im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in NRW war sie Präsidentin des Sozialgerichts Dortmund, dann Vizepräsidentin des Landessozialgerichts in Essen und Richterin am Bundessozialgericht in Kassel. 2010 wurde sie Präsidentin des Landessozialgerichts NRW – lange Zeit ihr „Traumberuf“. Ihre Karriere nahm jedoch nochmals eine Wende: 2012 wurde Ricarda von der Landesregierung zur ersten Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts in Münster und des Verfassungsgerichtshofs für das Land NRW ernannt. Dort war sie bis zu ihrem Ruhestand 2021 tätig.

Zu ihren besonderen Anliegen gehörte und gehört es, ihre Erfahrungen an die nächste Generation von Jurist:innen, insbesondere Frauen, weiterzugeben. Sie ist Mitglied des Hochschulrats der Ruhr-Universität Bochum.

Als Vorstandsvorsitzende der UNO-Flüchtlingshilfe e.V. – dem deutschen Partner des UNHCR – arbeitet Ricarda für den internationalen Flüchtlingsschutz. Sie engagiert sich für das Recht auf Asyl und für die Achtung der Menschenrechte.

Dieses Interview bezieht sich auf ein MeetUp der herCAREER Expo 2024, Ort und Zeitpunkt finden Sie im Programm.