Im deutschen Schulsystem hat sich seit Jahrzehnten wenig zum Besseren verändert, wie die jüngste #PISA-Studie zeigt.
Dennoch sagt der Soziologe Hans-Peter Blossfeld, der schon lange zu Bildungsgerechtigkeit forscht, im Interview mit ZEIT ONLINE über das Schulsystem: „Statisch ist es sicher nicht. Die Mädchen zum Beispiel haben extrem aufgeholt. Die gehörten lange Zeit zu den am stärksten benachteiligten Gruppen.“ Heute erlangen 52 % der Mädchen eine Studienberechtigung und 41 % der Jungen. „Damit ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen ungefähr genauso groß wie vor 40 Jahren – nur umgekehrt.“
Das habe viele Gründe. „Zum einen haben sich die Geschlechterrollen – besonders in Westdeutschland – verändert. Dass das Abitur für ein Mädchen überflüssig sei, weil sie ohnehin Hausfrau und Mutter wird, denkt niemand mehr, am allerwenigsten die Mädchen.“ Sie entsprächen zudem eher als die Jungen den schulischen Verhaltensnormen und den Erwartungen der Lehrer:innen, seien fleißiger und machten im Unterricht „weniger Faxen“, was zu besseren Noten führe.
Komplexer sind laut Blossfeld die Zusammenhänge bei der sozialen Herkunft als Diskriminierungskategorie. Kinder entwickelten sich – abhängig vom Status der Familie – vom ersten Tag ihres Lebens an auseinander. „Weil Eltern unterschiedlich mit ihren Kindern reden und spielen“, weil sie viel oder wenig vorlesen. Zwei Drittel der relevanten Kompetenzen entstünden schon vor dem Schulalter. „Und diese Herkunftsunterschiede verändern sich danach kaum noch, sondern bleiben über die Bildungsspanne bestehen.“
Zwar sei das #Schulsystem durchlässiger geworden, viele Wege führten heute zum Abitur, doch die neuen Optionen würden vor allem von bessergestellten Familien genutzt. Kinder aus solchen Familien besuchten häufiger eine Kita und eher eine qualitativ hochwertige. Die Eltern drängen später auch bei mittelmäßigen Noten darauf, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht – oder notfalls nach der Realschule noch das Abitur macht. „Weniger bildungsaffine Eltern signalisieren ihren Kindern dagegen: Ein Realschulabschluss ist doch auch ein schöner Erfolg“, so Blossfeld. Wer selbst studiert habe, sehe eine Ausbildung tendenziell als Abstieg. „Und einen Abstieg empfinden Menschen als schmerzhafter als einen nicht gelungenen Aufstieg.“
Die besuchte Schulform spiele jedoch kaum eine Rolle dabei, ob jemand studiert oder nicht, wie eine Langzeitstudie ergeben habe.
„Es kam vor allem auf das Elternhaus an. Meine Botschaft wäre jedoch nicht, die Leistung der Eltern aus dem Bildungsbürgertum zu verteufeln oder zurückzudrängen.“ Sondern: alles tun, um den benachteiligten Kindern in der Schule den Anschluss an die sozial privilegierten Kinder zu ermöglichen. „Das Stichwort heißt Individualisierung. Die großen Leistungsunterschiede in den Klassen lassen sich durch die traditionellen Lehrformen nicht ausgleichen. Man muss vielmehr auf die Schwächen einzelner Kinder gezielter eingehen.“
Ein Beitrag von Natascha Hoffner, Founder & CEO of herCAREER I WiWo-Kolumnistin I LinkedIn-TOP-Voice 2020 I W&V 2019 – 100 Köpfe
veröffentlicht bei LinkedIn 19.12.2023