Woran scheitert eigentlich die Verkehrswende? Am Patriarchat, sagt Männerberater und Autor Boris von Heesen. Männer hängen zu sehr an ihrem Automobil, das ihnen als Rüstung und als Statussymbol ein Gefühl der Macht vermittelt. Ein Gespräch über Dominanz, unterdrückte Gefühle und darüber, dass Frauen statistisch betrachtet eindeutig die besseren Fahrerinnen sind.

„ …Wenn es ums Auto geht, geht es ans Eingemachte, und da reagieren viele Männer schnell aggressiv. “

herCAREER: Was haben männliche Stereotype und die Automobilindustrie gemeinsam, Boris?

Boris van Heesen: Die männliche Sozialisation und Prägung findet im Automobil eine, ich sage mal, unschöne Fortsetzung: Laut sein, dominant sein, immer die Konkurrenz im Blick haben und vor allem: nicht mit sich selbst in Kontakt kommen.

Was tun die Männer stattdessen?

Männer definieren sich stark über Besitz und das Auto fungiert hier sowohl als Statussymbol als auch als Rüstung. Eine Art Ritterrüstung um ihre Gefühlswelt herum. Sie schotten sich ab und identifizieren sich dann über ihr Auto, anstatt sich zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Und diese Stereotype werden im Mobilitätssektor immer wieder aufgegriffen und reproduziert.

Volker Wissing kämpft(e) als Bundesverkehrsminister so vehement gegen das Tempolimit wie Friedrich Merz gegen die Abschaffung des § 218. Er behauptete immer wieder, die Bevölkerung wolle keine Anpassung, obwohl laut EY Energie Radar 74 Prozent der Bevölkerung für ein Tempolimit von 130 km/h sind. Laut ADAC sind 55 Prozent der Mitglieder pro Tempolimit, bei den Frauen steigt der Anteil. Warum werden die Wünsche der Wähler:innen ignoriert?

Hier treffen sich die Männerbünde aus Politik und Autoindustrie: Es gehört zum Markenkern der deutschen Autoindustrie, immer leistungsstärkere, immer größere und immer sicherere Fahrzeuge zu bauen – damit der Mensch auch bei solchen Geschwindigkeiten die Chance hat, einen Unfall zu überleben. Da zeigt sich eine unheilige Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik. Lobbying ist in vielen Bereichen wichtig, aber wenn bestimmte Interessengruppen so viel Geld haben und investieren, dann hat das negative Folgen für unsere Gesellschaft. Hohes Tempo sorgt für einen enorm hohen CO2-Ausstoß, es sterben unnötig viele Menschen und es hat einen negativen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl anderer Verkehrsteilnehmer:innen.

In deinem Buch „Mann am Steuer“ beschreibst du Situationen, die wir alle kennen. Auf der Autobahn von Rasern bedrängt zu werden: das Fahrzeug im Nacken, die Lichthupe im Rückspiegel. Nicht nur auf der Straße sind Frauen diesem Verhalten ausgesetzt. Auch abseits der Straße fühlen wir uns oft bedrängt. Was steckt dahinter?

Ich glaube, hier sind tiefsitzende patriarchale Reflexe am Werk. Weil sie mit diesem künstlich aufgeblasenen Ich herumfahren, meinen Männer, ein Recht auf Geschwindigkeit und Raum zu haben. Und das wird dadurch honoriert, dass andere Männer diesen vorbeiheizenden 5er und 7er BMWs auch noch verliebt hinterherschauen.

Wenn wir also über Tempolimits und CO2-Einsparungen reden, glaubt der privilegierte Mann, ihm würde etwas weggenommen. Ist die stagnierende Mobilitätswende also auf Verlustängste zurückzuführen?

Ja. Diese fragile Männlichkeit erlebe ich gerade wieder in den Kommentaren zu meinem Buch. Wenn es ums Auto geht, geht es ans Eingemachte, und da reagieren viele Männer schnell aggressiv.

Du arbeitest als Männerberater und hilfst Männern in Lebenskrisen – da kann man dir nicht vorwerfen, ein Männerhasser zu sein.

Natürlich will ich mit dem Buch auch einen Diskurs provozieren. Aber letztlich bin ich davon überzeugt, dass es den Männern besser ginge, wenn sie dem Auto nicht so eine große Rolle in ihrem Leben einräumen würden. Sie wären dann hoffentlich gesünder, hätten mehr Geld zur Verfügung und wären mehr in Kontakt mit sich selbst.

 Stattdessen erleben wir einen gesellschaftlichen Autozentrismus. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Autozentrismus bedeutet, dass vor allem im verkehrspolitischen Raum das Auto in den Mittelpunkt des Handelns gestellt wird. Bei der Verkehrsplanung, bei der Vergabe von Budgets – immer geht es darum, dem Auto die besten Rahmenbedingungen zu verschaffen. Dabei wird übersehen, dass es gerade in den Kommunen nicht nur bessere, sondern auch gesündere und wirtschaftlichere Formen der Fortbewegung gibt. Hier trifft der Autozentrismus auf das Konzept der Autonormativität.

Was bedeutet das?

Autonormativität bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung und bedeutet, dass das Auto als Norm der Mobilität wahrgenommen wird. Alles andere, also Radfahren oder zu Fuß gehen, ist eine Abweichung von der Norm.

Das Auto ist für die Mobilität das, was nach Caroline Criado-Perez im Alltag der weiße Mann ist? Der Maßstab, das Maß aller Dinge?

Genau. Und damit schließt sich der Kreis. Die Verkehrs- und Mobilitätspolitik zementiert im Grunde die alten Rollensysteme. Autonormativität und Autozentrismus sind eine Fortsetzung patriarchaler Dominanz.

Deine Forschung basiert immer auf repräsentativen Daten. Gibt es genügend verlässliche und nach Geschlecht aufgeschlüsselte Daten?

Ja, und sie zeichnen ein klares Bild: Männer führen alle Verkehrsstatistiken an, im negativen Sinne. Unfälle mit Verletzten und Toten, Verkehrsunfälle, Verkehrsdelikte, Drogen und Alkohol am Steuer, Geschwindigkeitsübertretungen. Selbst männliche Radfahrer und Fußgänger sind häufiger in Unfälle verwickelt als weibliche Verkehrsteilnehmerinnen. 92 Prozent aller Führerscheinentzüge gehen auf das Konto von Männern! Man muss sich das mal vorstellen: Würden Männer so fahren wie Frauen, gäbe es in Deutschland kaum noch Führerscheinentzüge.

Mehr weiblicher Einfluss in der Mobilität: Mit einer Verkehrsministerin wäre das aber noch nicht erreicht, oder?

Nein, aber es wäre ein starkes Signal. Es wäre die erste deutsche Verkehrsministerin und sie würde hoffentlich auf Parität bei den Staatssekretär:innen bestehen, so dass ein Dominoeffekt entstehen kann. Aber ich mache mir natürlich keine Illusionen. Keine Verkehrsministerin könnte innerhalb einer Legislaturperiode Geschlechterparität in den Gremien der Verkehrspolitik oder der Automobilindustrie herstellen.

Das klingt alles recht hoffnungslos. Wie könnte man deiner Ansicht nach eine Mobilitätswende konstruktiv vorantreiben?

In meinem Buch skizziere ich ein Projekt, eine Behörde, ich nenne sie Mobil 2045, die sich vor allem um Verkehrs- und Mobilitätserziehung kümmert. Derzeit endet die Verkehrserziehung in der Grundschule und wird für die Führerscheinprüfung kurz wieder aufgenommen. Das war’s dann.  Mit Mobil 2045 würde die Verkehrserziehung ein Leben lang andauern. Wer informiert ist, lernt, sich ökonomischer fortzubewegen. Es gäbe weniger Unfälle, weniger Gewalt, weniger Provokationen auf der Straße. Wir können ältere Menschen in den Blick nehmen und sie proaktiv für Gefahren und alternative Mobilitätslösungen sensibilisieren.

Wie könnte das alles finanziert werden?

Fragen wir uns, welche Folgekosten die aktuelle neoliberal und patriarchal geprägte Verkehrspolitik verursacht: All die Verkehrsunfälle, all die Schwerverletzten, all die Staus, all die Verzögerungen in irgendwelchen Lieferketten? Ich bin sicher, dass die Finanzierung einer solchen Behörde ein Klacks wäre, allein weil sie diese Kosten reduzieren könnte. Ich bin überzeugt, dass Mobil 2045 mit geschickter Kommunikation und den richtigen Maßnahmen Milliarden einsparen könnte. Und spätestens nach einer Generation hätten die Menschen gelernt, wie sinnvoll Radfahren und zu Fuß gehen eigentlich für Seele und Körper sind.

Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel

Auf der diesjährigen herCAREER Expo am 9. und 10. Oktober im Münchener MOC wird Boris von Heesen beim Authors-MeetUp auf der herCAREER Expo 2025 mit Katrin Habenschaden, Leiterin Nachhaltigkeit & Umwelt bei der Deutschen Bahn AG sprechen.

Über die Person

Boris von Heesen (*1969) ist Wirtschaftswissenschaftler mit ersten beruflichen Stationen bei der Diakonie in Bayern und der Drogenhilfe in Frankfurt am Main. Er ist Gründer eines der ersten deutschen Online-Marktforschungsinstitute. Heute arbeitet er als Männerberater und geschäftsführender Vorstand eines Jugendhilfeträgers. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich als Autor und Referent mit dem Thema kritische Männlichkeit und veröffentlichte bereits zwei erfolgreiche Bücher zum Thema. Sein aktuelles Buch „Mann am Steuer. Wie das Patriarchat die Verkehrswende blockiert“ ist im März 2025 beim Heyne Verlag erschienen