In ihrem Buch “Ungleich behandelt” geht die Ärzt*in Sabina Schwachenwalde den politischen und gesellschaftlichen Dimensionen von Medizin nach. Als Post-Covid-Patient*in hat sie das Gesundheitssystem von seiner anderen Seite kennengelernt. Im Interview berichtet sie von Schieflagen im System, warum Diversität allein keine Lösung ist und warum es wichtig ist, zu wissen, wie die akademische Medizin entstanden ist.
„Ärztinnen erleben jeden Tag Sexismus. Ich habe schon Behandlungen abgebrochen, weil mir Männer etwas Unangemessenes zuflüsterten.“
herCAREER: Sabina, du bist Ärzt*in und Patient*in. Inwiefern?
Sabina Schwachenwalde: Nach dem Medizinstudium habe ich angefangen als Ärzt*in in der Gynäkologie und Geburtshilfe zu arbeiten. Das war zu Beginn der Corona-Pandemie. In der Klinik habe ich mich mit dem Virus infiziert und später das Post-Covid-Syndrom entwickelt. Ich konnte drei Jahre lang nicht mehr in der Klinik arbeiten und habe das Gesundheitssystem aus der Perspektive der Patien*innen anders kennengelernt.
herCAREER: Was ist dir dabei aufgefallen?
Sabina Schwachenwalde: Das Ausgeliefertsein war mir vorher theoretisch bewusst, aber ich habe es erst als Patient*in wirklich emotional verstanden. Das Machtgefälle zwischen Ärzt*in und Patient*in ist sehr groß. Ich bin abhängig davon, wie diese Person mich einschätzt, was sie vielleicht für eine Meinung von mir hat. Manchmal geht es “nur” um eine Krankschreibung, manchmal geht es um Hilfsmittel und Medikamente. Man gibt viele private Dinge von sich preis. Ich habe auch zu spüren bekommen, wie es sich anfühlt, wenn man nicht ernst genommen wird. Das ist ein schlimmes Gefühl.
herCAREER: Und andersherum, als Ärzt*in, ist es auch nicht immer einfach, oder?
Sabina Schwachenwalde: Nein, und das ist interessant, weil das Machtgefälle eigentlich von der behandelnden Person abwärts geht. Ärztinnen erleben jeden Tag Sexismus. Ich habe schon Behandlungen abgebrochen, weil mir Männer etwas Unangemessenes zuflüsterten. Als junge Ärzt*in, die sich bewirbt, wird man schnell auf die eigene Familienplanung reduziert. Oder: Bei der Visite steht die Oberärztin, die zuvor operiert hat und daneben ein Pflegeschüler – und der Patient geht selbstverständlich davon aus, dass der Mann der Arzt ist.
herCAREER: Du schreibst in deinem Buch: “Wer behandeln und heilen darf, war und ist politisch” – was meinst du damit?
Sabina Schwachenwalde: Es gab schon immer Menschen, die Wissen zu Gesundheit hatten. Es waren mehrheitlich Frauen, die früher das Wissen über Generationen weitergegeben haben, etwa, wie man Wunden versorgt oder Geburten begleitet. Dieses Wissen geriet ab dem 14. Jahrhundert ins Visier der Hexenverfolgungen. Zur gleichen Zeit wurde die Medizin als Fach institutionalisiert und als männlicher Beruf etabliert. Es ist hilfreich zu wissen, dass die ganze Disziplin aus einer männlichen Perspektive entstanden ist.
herCAREER: Das ist lange her. Wie ist es heute?
Sabina Schwachenwalde: Wer heute den ärztlichen Beruf ausübt, sind mehrheitlich gesellschaftlich gut gestellte Menschen, auch wenn sich die Geschlechterverhältnisse verschoben haben. Die Menschen, die in der Medizin arbeiten, bilden aber weiterhin nicht die Gesellschaft ab.
herCAREER: Wieso ist das ein Problem?
Sabina Schwachenwalde: Das ist problematisch, weil aus der Medizin immer eine Definitionsmacht strahlt. Letztendlich entscheiden die Mediziner*innen, wer krank und wer gesund ist oder was „abnorm“ und „normal“ ist.
herCAREER: Hast du hierfür ein Beispiel?
Sabina Schwachenwalde: Inter* Menschen, also Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig den medizinischen Kategorien weiblich oder männlich zugeordnet werden können, wurden bis vor nicht allzu langer Zeit als Baby nach der Geburt operiert, um eindeutig als männlich oder weiblich zu gelten. Eben weil die Medizin festgelegt hatte, dass es nur zwei Geschlechter geben darf, die anhand des Genitals bei der Geburt bestimmt werden. Diese Operationen sind gewaltvolle Eingriffe. Sie werden zum Glück zunehmend in Frage gestellt und sind seit 2021 in Deutschland zumindest offiziell verboten.
herCAREER: Was sagst du denen, die entgegnen, dass die Medizin sich als naturwissenschaftliches Fach keinen Moden unterwirft beziehungsweise einen objektiven Anspruch hat?
Sabina Schwachenwalde: Naturwissenschaftler*innen wissen eigentlich genau, dass komplette Objektivität eine Illusion ist. Medizinische Forschung hat immer ein Problem mit Bias, mit Verzerrung und Voreingenommenheit. Eine gute Studie zeichnet z.B. aus, wenn dieser Bias möglichst gering ist. Aber auch Wissenschaftler*innen sind Menschen. Das Problem beginnt bereits bei der Frage: Was erforsche ich überhaupt?
herCAREER: Hat sich hier in den vergangenen Jahren nichts getan?
Sabina Schwachenwalde: Das Bewusstsein für Voreingenommenheit ist, meine ich, größer geworden. Wenn man sich zum Beispiel alte Prüfungsfragen ansieht für Medizinstudierende, sieht man wie sehr stark mit sozialen Kategorien und Vorurteilen gearbeitet wurde. Dann geht es in einer Fallfrage um den Bauarbeiter, der viel Bier trinkt. Da wird der Stereotyp eines Arbeiters mit Suchtproblem gezeichnet. Wir wissen aber, dass Suchtprobleme in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommen.
herCAREER: “Bestimmte Patien*innen haben es besonders schwer im Patriarchat, fiel mir im Hörsaal und im Behandlungszimmer auf”, schreibst du. Welche Gruppen werden in unserem Gesundheitssystem deiner Meinung nach besonders marginalisiert?
Sabina Schwachenwalde: In meinem Buch spreche ich wegen der Anschaulichkeit von verschiedenen Gruppen, etwa Frauen und weiblich gelesene Personen, Menschen mit Behinderung und Menschen, die negativ von Rassismus betroffen sind. Vor allem schwer haben es die Menschen, die von mehreren Diskriminierungsformen gleichzeitig betroffen sind. Das ist der Ansatz des intersektionalen Feminismus, den ich verfolge. Ich will jedoch keineswegs Gruppen gegeneinander aufwägen, letztlich geht es darum, das ganze System in den Blick zu nehmen und zu hinterfragen.
herCAREER: Jetzt könnte man entgegnen, ein überlastetes Gesundheitssystem richtet sich nicht gegen bestimmte Gruppen von Menschen, sondern gegen alle, die keine Sonderbehandlung genießen, etwa, weil sie privat versichert sind.
Sabina Schwachenwalde: Klar, ein überlastetes System ist für niemanden gut. Ich bin trotzdem überzeugt, dass es kein Zufall ist, wer als erstes durchs Raster fällt. Ich finde zum Beispiel, es ist ein Unding, dass wir eine Zweiklassenmedizin haben. Ich habe es an vielen Stellen im klinischen Alltag beobachtet, wie unterschiedlich Menschen betreut werden.
herCAREER: Du schreibst, Diversität sei nicht die Lösung. Warum?
Sabina Schwachenwalde: Das ist bewusst provokant formuliert. Selbstverständlich habe ich nichts gegen Diversität. Aber viel wichtiger ist es, die Strukturen des Gesundheitssystems in den Blick zu nehmen. Nur weil die vermeintlichen Führungsebenen diverser besetzt sind, heißt das noch nicht, dass sich inhaltlich und strukturell wirklich etwas ändert. Denn als Menschen haben wir immer Vorurteile, ich ertappe mich oft genug dabei, als chronisch kranke Person Vorurteile zu genau dieser Personengruppe zu haben.
herCAREER: Warum sollten Medizinstudent*innen etwas über die Kolonialgeschichte Deutschlands wissen?
Sabina Schwachenwalde: Die Disziplin der Medizin hat die koloniale Gewalt maßgeblich unterstützt hat und die wissenschaftliche Revolution ging zu großen Teilen auf Kosten der kolonisierten Menschen. Etwa das Konstrukt von angeblichen „Menschenrassen“ entspringt der Medizin.
herCAREER: Deutschlands Kolonialgeschichte war dir näher als du dachtest, richtig?
Sabina Schwachenwalde: Die Menschen in den Kolonien mussten auch für grausame Menschenexperimente herhalten. Das Interesse an Schädeln und Knochen war groß, deshalb brachte man sie nach Deutschland. Rudolf Virchow, als Mediziner noch heute gefeiert, hatte Schädelsammlungen, von denen nicht eindeutig klar ist, woher sie stammten. Zu der Zeit, in der ich an der Charité in Berlin studiert habe, lagerten unzählige dieser Schädel und Knochen im Keller. Inzwischen setzen sich Aktivist*innen dafür ein, dass diese Knochen dort beerdigt werden, wo sie herkommen. So etwas zu wissen, gehört meiner Meinung nach zum Medizinstudium dazu.
herCAREER: Wenn du eine Sache in unserem Gesundheitssystem ändern könntest, so welche wäre das?
Sabina Schwachenwalde: Ich denke, ich würde das Konzept “besondere Fürsorge für besonders marginalisierte Menschen” gerne verwirklicht sehen. Menschen, die viel Diskriminierung erfahren oder es besonders schwer haben im Leben und dadurch besondere gesundheitliche Einschränkungen haben, sollen auch besonders viel Empathie, Zeit und Ressourcen bekommen.
Das Interview führte herCAREER-Chefredakteurin Julia Hägele.
Über die Person
Sabina Schwachenwalde, geboren 1991 in Brandenburg, ist Ärzt*in und Aktivist*in. Während ihres Studiums in Berlin, Istanbul und Melbourne forschte sie zu medizinischer Versorgung von Frauen aus eingewanderten Familien und schrieb journalistische Texte. Als Mitbegründer*in des Vereins Feministische Medizin e.V. setzt sie sich ehrenamtlich für gesundheitspolitische Themen ein. Durch ihre Arbeit in der Geburtshilfe kennt Sabina Schwachenwalde das Gesundheitssystem aus ärztlicher Perspektive, seit ihrer eigenen Post-Covid-Erkrankung auch aus Patient*innensicht.