In ihrem Buch “Unfiltered. Social Media und unser Körperbild” geht die Psychotherapeutin Dr. Julia Tanck den Auswirkungen auf den Grund, die Social Media auf unser Körperbild und Wohlbefinden haben kann. Im Interview erklärt sie, warum die Gründe für Essstörungen oft in der Familie liegen, warum Social Media das Problem des Fernsehens verschärft und wie es gelingt, mit sich ins Reine zu kommen.
„Schlanksein wird häufig mit Leistung, Anerkennung, Intelligenz, Selbstbewusstsein und Erfolg verknüpft“
herCAREER: Julia, du arbeitest als Psychotherapeutin und bist Expertin in Sachen Essstörungen und verzerrte Körperbilder – hat die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper nur etwas mit dem Äußeren eines Menschen zu tun?
Dr. Julia Tanck: Jein – die Unzufriedenheit mit dem Körper kann sich schon sehr früh im Alter von fünf bis sechs Jahren entwickeln.
herCAREER: Wie kann das sein?
Dr. Julia Tanck: Zum einen ist es das Elternhaus, zum anderen sind bereits kleine Kinder medialen Einflüssen ausgesetzt. Zuletzt spielen die Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle. Körperunzufriedenheit kann die Manifestation eines geringen Selbstwerts oder schlicht schlechter Stimmung sein. Es muss nicht immer direkt etwas mit dem Äußeren zu tun haben.
herCAREER: Was kann im Elternhaus falsch laufen?
Dr. Julia Tanck: Es gibt viel Forschung zu Mütter-Töchter-Paaren. Wenn die Mutter negative Kommentare in Bezug auf ihren eigenen Körper äußert, andere Körper negativ kommentiert oder gar das Kind negativ kommentiert, dann überträgt sich diese Unzufriedenheit auf das Kind – selbst wenn das von der Mutter gar nicht gewollt ist.
herCAREER: Wie ist es mit Vätern und Söhnen?
Dr. Julia Tanck: Da ist es genauso. Wenn Väter zum Beispiel sehr exzessiv Sport treiben oder Muskelaufbau-Präparate nehmen, beeinflusst das die Söhne. Wir haben häufig gleichgeschlechtlichen Übertragungsprozesse, aber selbstverständlich kann auch ein Vater durch negative Kommentare Körperunzufriedenheit bei seiner Tochter auslösen.
herCAREER: Welche sind deiner Erfahrung nach die häufigsten tieferliegenden Gründe für Körperunzufriedenheit?
Dr. Julia Tanck: Es sind die familiären Prozesse, aber auch die Einflüsse innerhalb unserer Gesellschaft. Schlanksein wird häufig mit Leistung, Anerkennung, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Erfolg etc. verknüpft. So lernen wir bereits früh, dass wir einen inneren Mangel im Außen – also an unserem Körper – kompensieren können. In meiner Praxis ist es fast die Regel, dass Patientinnen, die mit einer Essstörung in Therapie sind, berichten: Ich habe eigentlich von zu Hause schon immer ein gestörtes Essverhalten vorgelebt bekommen. Meine Mutter hat nur einmal am Tag gegessen oder mein Vater hat seinen Körper den ganzen Tag negativ bewertet. Daneben gibt es bei Essstörungen eine große genetische Komponente.
herCAREER: Wie sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede?
Dr. Julia Tanck: Frauen sind im direkten Vergleich mit Männern immer noch unzufriedener mit ihren Körpern – über alle Altersgruppen hinweg.
herCAREER: Aber eine Körperunzufriedenheit ist nicht gleich eine Essstörung, oder?
Dr. Julia Tanck: Nein, nicht jede Person mit einer Körperunzufriedenheit entwickelt eine Essstörung. Aber ein negatives Körperbild ist bei einer Essstörung fast immer vorhanden. Der Prozess ist plausibel: Ich bin mit meinem Körper unzufrieden und möchte das ändern, weil dieses Gefühl unangenehm ist. Es mag auf den ersten Blick um den Körper gehen, aber im Grunde geht es darum, die negativen Gefühle zu regulieren: Um dem niedrigen Selbstwert zu entkommen, will ich nach außen etwas verändern, um mich wertvoller zu fühlen.
herCAREER: Haben die Menschen, die zur Essstörung neigen, etwas gemeinsam?
Dr. Julia Tanck: Fast alle bringen ein hohes Level an Perfektionismus mit. Sie haben hohe Ansprüche, an ihren Körper und an ihre Leistung. Und sie haben ein großes Kontrollbedürfnis – wobei das Bedürfnis nach Kontrolle ein psychologisches Grundbedürfnis ist, das wir alle haben. Aber es ist eben unterschiedlich stark ausgeprägt.
herCAREER: Welche eigenen Erfahrungen hast du gemacht?
Dr. Julia Tanck: Ich kenne essgestörte Verhaltensmuster wie: Diäten machen, häufiges Wiegen, Kalorien zählen. Das Bedürfnis, gewissen Körperidealen zu entsprechen. Auch Körperkommentare seitens der Familie sind mir nicht fremd. Aber ich habe es immer geschafft, mich gut abzugrenzen. So hat sich die Körperunzufriedenheit nicht in einer Essstörung verfestigt.
herCAREER: Es gibt viele Übungen in deinem Buch – warum reicht es nicht, die Mechanismen zu “verstehen”? Wie kann man eine wertschätzende Haltung gegenüber seinem Körper trainieren?
Dr. Julia Tanck: Das Thema hatte ich gerade gestern in einer Therapiestunde! Die Mechanismen kognitiv zu verstehen ist wichtig und der erste Schritt, ein Bewusstsein zu entwickeln, dass es etwas gibt, an dem ich arbeiten darf oder wachsen kann. Der nächste wichtige Schritt ist dann, neue Erfahrungen zu machen, die unsere Gedanken und Gefühle auch wirklich nachhaltig verändern können. “Es stimmt nicht, dass ich nur wertvoll bin, wenn ich schlank bin”, ist leicht gesagt, aber schwer umgesetzt.
herCAREER: Wie setzt man so einen Satz um, so dass man ihn auch glaubt?
Dr. Julia Tanck: Das ist die Kunst. Über Verhaltensänderungen können wir positive Erlebnisse und neue Blickwinkel verinnerlichen. Durch Achtsamkeit, durch intuitive Ernährung, durch Freude an Bewegung, am Essen, am Genuss. Gestern in der Sitzung haben wir zum Thema Sinnlichkeit gesprochen, also auch positive Erfahrungen mit dem Körper zu erleben. Das heißt, die Gedanken und die Gefühle brauchen immer länger, um sich zu verändern. Das Verhalten können wir aber relativ schnell ändern.
herCAREER: Mit Essstörungen haben es westliche Gesellschaften erst nach dem Aufkommen des Fernsehens zu tun, richtig?
Dr. Julia Tanck: Man kann das nicht verallgemeinern, aber die bekannte Fidschi-Studie hat ergeben, dass sich erst nach der Einführung des Fernsehens 1995 Essstörungen auf den Fischi-Inseln ausbreiteten. Vorher waren sie dort nicht bekannt. Auch in den Neunzigerjahren bei uns, mit dem extremen Schlankheitsideal mit Models wie Kate Moss, nahmen die Essstörungen zu, hier gibt es einen Zusammenhang zwischen medialer Konfrontation und der tatsächlichen Fallzahl.
herCAREER: Wieso verschärft Social Media das Problem noch einmal mehr?
Dr. Julia Tanck: Auf Social Media kann im Unterschied zu den traditionellen Medien jede Person vertreten sein. Das macht es näher. Im Fernsehen sehen wir in der Regel Celebrities, Prominente oder Politiker:innen. Bildbearbeitung ist ein großes Thema. Mit einem Klick können die User:innen ihr Foto optimieren, so dass manche sich gar nicht mehr trauen, nicht retuschierte Bilder von sich hochzuladen. Und das verzerrt die Realität.
herCAREER: Würdest du zum kompletten Social-Media-Verzicht raten?
Dr. Julia Tanck: Das ist eine individuelle Entscheidung. Ich würde nicht sagen, dass ein kompletter Verzicht notwendig ist. Social Media hat viele Vorteile: Wir finden niedrigschwellig Wissen und Informationen zu Themen, die uns interessieren. Wenn ich mich beispielsweise vegetarisch ernähren will, aber nicht weiß, wie genau, finde ich bestimmt viel Inspiration. Es geht darum, in die Selbstverantwortung zu gehen und zu fragen: Welche Inhalte tun mir nicht gut? Wo gibt es einen Mehrwert für mich und was zieht mich runter? Und dann auch Konsequenzen zu ziehen und gewissen Accounts entfolgen.
herCAREER: Auch die noch so erfolgreiche, intelligente Frau ist nicht davor gefeit, ihr Leben lang mit ihrem Äußeren zu hadern. Welche Fähigkeit haben die Frauen, die mit sich im Reinen sind?
Dr. Julia Tanck: Ich beobachte, dass die Frauen, die mit sich im Reinen sind, eine gute, stabile innere Haltung haben, die nichts mit ihrem Gewicht zu tun hat. Ich habe auch beruflich erfolgreiche Frauen in der Therapie sitzen, die dem gängigen Schönheitsideal entsprechen und traurig und niedergeschlagen sind.
herCAREER: Was empfiehlst du diesen Frauen?
Dr. Julia Tanck: Ich empfehle generell, das Selbstwertgefühl divers aufzubauen – es auf ein Fundament zu stellen, dass größer ist als das reine Aussehen. Was zeichnet mich als Person aus? Für welche Werte stehe ich ein? Was schätzen Menschen an mir? Wofür möchte ich mich einsetzen? Welche Freundschaften tun mir gut? Will ich reisen? Ein Instrument lernen? Gute Gespräche führen? Wer sein Leben nach den eigenen Werten ausrichtet, ist automatisch glücklicher. Die Frauen, die mit sich im Reinen sind, gestalten ihr Leben nach ihren persönlichen Vorstellungen. Und das ist der Weg für uns alle – auch wenn er nicht immer einfach ist.
Das Interview führte herCAREER-Chefredakteurin Julia Hägele.
Über Dr. Julia Tanck
Dr. Julia Tanck ist promovierte Psychologin, psychologische Psychotherapeutin und Wissenschaftlerin. Sie untersucht in ihrer Forschung das Körperbild von Frauen mit und ohne Essstörungen sowie Zusammenhänge zwischen Social Media und dem Körperbild. Die so gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse präsentiert sie auf Fachkongressen, im Rahmen von Weiterbildungen sowie in der Hochschullehre. Neben der Tätigkeit als Wissenschaftlerin behandelt sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis Patient*innen mit verschiedenen psychischen Störungsbildern. Sozial engagiert sie sich im Bereich der Bildungsarbeit und informiert auf ihrem Instagram-Kanal zu Inhalten der aktuellen Körperbildforschung, Gewichtsstigmatisierung, Diätkultur und Essstörungen. Dabei gibt sie Einblicke in die psychotherapeutische Arbeit und ermöglicht es ihren mittlerweile zehntausenden Follower*innen, sich an aktiv an Beiträgen zu den genannten Themen zu beteiligen.