Dass wir die Zukunft gemeinsam gestalten können, macht die Demokratie zur Demokratie, schreibt Prof. Dr. Andrea Römmele in ihrem aktuellen Buch. Demokratie neu denkenist teils Analyse, teils Denkfabrik. Die Vize-Direktorin der Hertie School stellt darin viele elementare Fragen, auf die wir dringend Antworten finden müssen. Im Gespräch mit herCAREER-Redakteurin Kristina Appel macht sie deutlich: Die Gefahren für die Demokratie sind groß, aber verloren ist sie deshalb noch nicht. Wir haben die Wahl. 

Wir werden diese Entwicklungen also nicht verhindern, aber wir müssen ihre Konsequenzen aktiv gestalten.

herCAREER: Frau Römmele, in Ihrem Vorwort schreiben Sie: „Mir ist um unsere Demokratie nicht bange.“ Was stimmt Sie so positiv, bei all den aktuellen anti-demokratischen Entwicklungen?

Andrea Römmele: Meinen Optimismus schöpfe ich aus dem Austausch mit der jungen Generation, seien es meine Studierenden oder meine eigene Familie. Dabei fallen mir zwei Dinge auf: Erstens sind fast alle jungen Menschen, mit denen ich zu tun habe, in irgendeiner Form zivilgesellschaftlich organisiert. Das ist nicht immer auf den ersten Blick politisch, das kann im Fußballverein sein, im Chor, also im vorpolitischen Raum. Hier sammeln sie zentrale Erfahrungen für die Demokratie! 

herCAREER: Und zweitens?

Die junge Generation hat Disruption in der DNA. In meiner Generation hat sich (im Westen der Republik) zumindest gefühlt immer alles linear in Richtung „besser, höher, schneller, weiter“ entwickelt. Spätestens 1989 „siegte“ die liberale Demokratie, so hat es der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in seinem Essay „The End of History and the Last Man“ beschrieben. Mehr Chancen, mehr Freiheit, mehr Wohlstand. Die heutige Jugend ist zum Teil nach 9/11 geboren, ein großes Krisenereignis. Dann kamen die Finanz-, die Immobilien- und die Eurokrise. Schließlich der Flüchtlingssommer, der Brexit und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2016. Corona und Russlands Invasion in der Ukraine. Für die Jungen ist das Chaos die Norm, weil sie nie eine Ordnung kannten wie wir. Deshalb bin ich optimistisch. Solange – und davon wird alles abhängen – sie jetzt auch schnell Verantwortung übernehmen können und wollen.   

herCAREER: Ist das Ihr Appell – der jungen Nachfolge die Türen öffnen?

Ja. Die Bundesregierung und die Parteien sind hoffnungslos überaltert und der Osten ist hoffnungslos unterrepräsentiert. Wir müssen es schaffen, attraktive Wege für die Beteiligung der kommenden Generationen zu ermöglichen – auch jenseits der Parteien.  

herCAREER: Wie das gelingen könnte, skizzieren Sie in Ihrem Buch „Demokratie neu denken“. Sie zeichnen dort fiktive Zukunftsszenarien. Sind das fantastische Utopien oder basieren diese Szenarien auch auf aktueller Forschung?

Beides. Sie sind das Ergebnis einer Denkfabrik, aber sie basieren auf Forschung. Es braucht nicht viel, um diese positiven Szenarien zum Leben zu erwecken.Meine fiktiven Szenarien sollen dies veranschaulichen.  

herCAREER: Sie umreißen die Dringlichkeit eines neuen Demokratieverständnisses anhand von fünf Megatrends: Digitalisierung, Urbanisierung, demografischer Wandel und Migration, Klimawandel und Globalisierung. Warum?

Diese Megatrends sind Entwicklungen, die die globale Gesellschaft ganzheitlich erfassen. Lawinen in Zeitlupe: Sie erfassen uns politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell: Es führt kein Weg an ihnen vorbei. Wir werden die Konsequenzen spüren – an vielen Stellen spüren wir sie längst. Wir werden diese Entwicklungen also nicht verhindern, aber wir müssen ihre Konsequenzen aktiv gestalten. Das ist mein zentraler Appell im Buch. 

herCAREER: Was sind das für Konsequenzen, insbesondere für unsere Demokratie?

Wenn wir diese Trends jetzt nicht konstruktiv mitgestalten, werden wir sehr schnell Wende- und Kipppunkte erreichen, wie wir sie aus dem Klimadiskurs kennen. Egal, welche der Megatrends wir uns anschauen: ohne aktive Steuerung und Gestaltung ist eine noch stärker polarisierte Gesellschaft, eine noch weiter wachsende soziale Ungleichheit die Folge. Und dies würde zu einem weiteren Erstarken der AfD führen. 

herCAREER: Sie beginnen das Buch mit der Digitalisierung. Sie sollte demokratischen Diskurs fördern – mittlerweile tut sie das Gegenteil…

Das ist eine der ganz großen Herausforderungen: Im Netz kursieren Fake News, Propaganda, Desinformation. Warum ist das eine Gefahr für die Demokratie? Weil Demokratie darauf beruht, dass wir uns auf der Basis von Fakten miteinander auseinandersetzen. Wir können in einer Demokratie unterschiedlicher Meinung sein, wir können auch emotional debattieren, aber für konstruktive Debatten muss die Grundlage der Auseinandersetzung auf Fakten beruhen.   

herCAREER: Ein Fakt ist, dass unsere Bevölkerungspyramide auf dem Kopf steht. Welche Gefahr birgt der demografische Wandel für die Demokratie?

Der Gesellschaftsvertrag und unsere sozialen Sicherungssysteme basieren auf vielen Jungen und wenigen Alten. Diesen Umstand haben wir aber seit Jahrzehnten nicht mehr. Denkt man dies zu Ende, müssen immer weniger junge Menschen für immer mehr Ältere aufkommen (Rente, Kranken- und Pflegeversicherung). Wie soll das funktionieren? Gerhard Schröder hat mit der Agenda 2010 versucht nachzusteuern, aber es muss dringend weiter nachgebessert werden, sonst steigen uns die Jungen aufs Dach – und das zu Recht.  

herCAREER: Sie meinen also, der Generationenvertrag muss neu geschrieben und die Sozialversicherung neu aufgestellt werden?

Ja. Natürlich könnte man den Personalmangel durch Migration ausgleichen, was wir ja auch mit jungen Facharbeiter:innen erfolgreich versuchen. Aber wenn wir über Migration reden, dürfen wir die Integration nicht vergessen. Wie integrieren wir diese Facharbeiter:innen? Wann bekommen sie die deutsche Staatsbürgerschaft, wann sind sie Teil des Systems und dürfen wählen? Wenn diese Menschen nicht in den demokratischen Prozess einbezogen werden, dann haben wir sie auch nicht ehrlich und konsequent integriert.   

herCAREER: Weniger Jugend, aber immer noch zu wenig Wohnraum in den Städten: Wie gefährdet die Urbanisierung unsere Demokratie?

Wohnen ist für mich die neue soziale Frage! Wohnungsnot verursacht soziale Spannungen und führt zu einer Überlastung der städtischen Infrastruktur. Die Welt braucht nachhaltige Stadtplanungskonzepte, die soziale Integration fördern. 

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mangel an Wohnraum in den Städten einer der Gründe ist, warum Die Linke bei dieser Bundestagswahl so stark zugelegt hat. Sie ist die einzige Partei, die diesen Mangel wirklich ernst nimmt.   

herCAREER:Wo die Menschen in die Städte ziehen, verlieren die Gemeinden auf dem Land an Attraktivität und Lebensgrundlage. Dennoch liegen Ihrer Meinung nach die großen Chancen für demokratische Teilhabe auf dem Land. Warum?

Vor Ort, in der Gemeinde, kann man schnell etwas verändern. Man hat mehr Kontakt, erlebt Demokratie hautnah und sieht die Auswirkungen demokratischen Engagements.  Und es ist wichtig, dass wir einem wachsenden Stadt-Land-Gefälle entgegenwirken. Welche Auswirkungen diese wachsende Kluft haben kann, sehen wir in Ostdeutschland und noch stärker in den USA. 

herCAREER: Diese Aussicht allein wird keine „Stadtflucht“ anstoßen. Was braucht es, damit die Menschen wieder gerne auf dem Land leben?

Wir brauchen Investitionen in die gesamte Infrastruktur. Nicht nur Züge und S-Bahnen mit guten Anbindungen, sondern eben auch Ärzt:innen, Kindergärten und Schulen. Das Stadt-Land-Gefälle muss sich entspannen, denn wir sehen deutlich, dass gerade die Menschen, die AfD wählen, oft auf dem Land leben und sich die Gefühle des Abgehängtseins und der Unzufriedenheit in der Zustimmung zu den Narrativen der AfD widerspiegeln.   

herCAREER: Sprechen wir über das Klima. Es gibt Städte, in denen schon heute Temperaturen um die 50 Grad gemessen werden. Sturmfluten bedrohen Wohnviertel am Meer und an Flussmündungen. Wie und warum bedroht der Klimawandel Demokratien?

Indem er die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Sozial Schwächere spüren die klimatischen Veränderungen stärker: Sie leben zum Beispiel auf engerem Raum, mit weniger Grünflächen, in schlechter gedämmten Häusern. Sie und ich, wir können in den Park gehen und uns zu Hause die klimafreundlichste Klimaanlage einbauen lassen, die wir finden können. Und – in der Klimafrage wird besonders deutlich, dass wir uns von unserem sehr (neo)liberalen Demokratieverständnis verabschieden müssen.   

herCAREER: Was meinen Sie damit?

Wir haben lange mit einer Demokratievorstellung gelebt, in der es um die Maximierung der eigenen Interessen ging. Von dieser Idee müssen wir uns verabschieden und stattdessen mehr an das Kollektiv und an langfristige Nachhaltigkeit denken. Wenn wir unser Grundgesetz genauer studieren, sehen wir, dass das Individuum immer in die Gemeinschaft eingebettet ist und aus dem Blickwinkel der Gemeinschaft gedacht wird. Wir als Wohlhabende müssen auf bestimmte Privilegien verzichten – weniger Luxusgüter wie Privatflugzeuge und große Autos. Auch die Unternehmen, die einen sehr hohen CO2-Verbrauch haben, müssen auf nachhaltigere Prozesse umstellen, denn wir kommen sonst in große Schwierigkeiten. Aber ich glaube, das ist möglich! 

herCAREER: Da entsteht die Frage: Ist es noch demokratisch, wenn der Staat uns bestimmte Regeln oder einen Verzicht für mehr Nachhaltigkeit auferlegt?

Ja, das ist es. Wir brauchen ein politisches System, das besser und schneller auf Veränderungen reagiert und sich selbst schneller verändern kann. Ein System, das Neuanfänge fördert.   

herCAREER: Wie können wie das begünstigen?

Die Megatrends werden weiter voranschreiten, das ist sicher. Unsere Aufgabe ist es, sie politisch so zu steuern, dass Ungleichheiten ausgeglichen werden. Und da sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs: Ich glaube, wir müssen das disruptive Denken, das in der Wirtschaft so positiv besetzt ist, auch in die Politik bringen. Dort bedeutet Disruption Innovation sie bringt Fortschritt und Veränderung. Die Frage ist: Wie kann Demokratie konstruktiv mit Disruption umgehen? 

herCAREER: Und was hindert uns derzeit daran?

Wir haben über Jahrzehnte ein System aufgebaut, das uns Stabilität und Verlässlichkeit gebracht hat. Jetzt brauchen wir ein System, das flexibel und reaktionsfähig ist, aber natürlich nichts an Stabilität und Verlässlichkeit einbüßt. Das eine schließt das andere nicht aus! Um dieses Denkmuster zu verändern, brauchen wir klare und gute Führung, die nicht reaktiv, sondern visionär ist. Transparente und konsequente Kommunikation. Und: junge Menschen in der Politik.  

herCAREER: Ein Aspekt, der all dem zugrunde liegt, ist Vertrauen. Wir wissen, dass ein signifikanter Teil der Bevölkerung das Vertrauen in die politischen Akteur:innen und sogar in die Demokratie verloren hat. Wie bekommen wir das zurück?

Ich glaube, dass wir alle, und so eben auch die politischen Akteur:innen, neuen Mut brauchen. Einen Zukunftsmut-Modus, in dem wir uns auf das konzentrieren, was uns wirklich gelingt. Denn uns gelingt schon sehr viel, aber wir reden nur über das, was schiefläuft. Ich wünsche mir, dass wir dieses Narrativ ändern und anfangen, Demokratie neu zu denken. 

Das Interview führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.

Über die Person

Andrea Römmele ist Professorin für Politische Kommunikation und Vizepräsidentin an der Hertie School in Berlin. Ihr Forschungsinteresse gilt den Themen Demokratie vergleichende politische Kommunikation, politische Parteien und Wahlkämpfe.

Sie gehörte zum Wahlkampfteam von Gerhard Schröder und Hillary Clinton. Regelmäßige Medienauftritte (u.a. bei Maybritt Illner, Tagesschau, zeit.de, Focus, ARD Morgenmagazin, ZDF, New York Times). Im Jahr 2024 war Andrea Römmele Thomas-Mann Fellow in Los Angeles, hier arbeitete sie zu Megatrends und Demokratie. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2024 hat sie live aus Washington für diverse Radio- und Fernsehsender berichtet.

In ihrem Buch Zur Sachewidmet sie sich dem Thema Streit und Streitkultur als die zentralen Voraussetzungen für Demokratien; ihr neues Buch Demokratie neu denkenist 2024 im Campus Verlag erschienen. 

Auf der diesjährigen herCAREER Expo wird Prof. Dr. Andrea Römmeleam Freitag, den 10. Oktober im Münchener MOC beim Authors-MeetUp über ihr Buch Demokratie neu denkensprechen.