„Wieso Frauen erst in Krisen an die Macht kommen“: der Managementforscher Max Reinwald im Interview mit Clara Thier im Handelsblatt.

Ob es nur ein Zufall war, dass eine schwere Krise Kamala Harris zur Präsidentschaftskandidatur verhalf? Eher nicht, meint Reinwald. Die Umstände seien vielmehr typisch für ein Phänomen, das es vor allem auch in der Unternehmensführung gebe und Frauen strukturell diskriminiere.

„Frauen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, an eine Top-Führungsposition zu kommen, wenn das Unternehmen in einer Krise steckt. In der Organisationsforschung nennt man das den Glass-Cliff-Effekt. (…) Wer auf der gläsernen Klippe steht, sieht den Abgrund deutlicher unter sich.“

Unternehmen in einer Krise wollten vor allem Wandlungsbereitschaft gegenüber ihren Investoren zeigen, und deshalb beriefen sie in vielen Fällen eine Frau als Chefin. Das lasse sich auf den politischen Kontext übertragen, etwa auf die Krise der Demokratischen Partei, die in den Umfragewerten deutlich hinter den Republikanern lag. „Wir sehen auch Druck von Investoren, in diesem Fall sind es die Großspender, die Spenden zurückgehalten haben.“

Natürlich könne Harris‘ Nominierung nur darin begründet sein, dass sie die Vizepräsidentin ist – unabhängig von ihrem Geschlecht. Generell weise die Masse an Daten jedoch darauf hin, dass es das Phänomen der „gläsernen Klippe“ gebe. Reinwald sieht ein „systematisches Bias bei der Besetzung von Top-Führungskräften. Frauen haben oft schwierigere Startbedingungen als Männer.“ Und wenn sie gerade in einer Krisensituation aufsteigen, sei das Risiko eines Scheiterns größer.

Frauen haben nach US-Forschungsergebnissen im Durchschnitt kürzere Amtszeiten, werden also schneller wieder entlassen. „Das ist besonders dann der Fall, wenn die Performance des Unternehmens nicht stimmt. Wohingegen bei Männern die Performance nicht so stark vorhersagt, ob sie entlassen werden oder nicht. Anders ausgedrückt: Frauen dürfen sich deutlich weniger erlauben als die Männer, wenn sie mal in Führungspositionen sind. Das ist besonders schwer, wenn man schon in einer Krise berufen wurde.“

Ein Paradox: „Einerseits dürfen sich Frauen weniger erlauben und werden unterschätzt. Andererseits sollen sie in den schwierigsten Momenten Führungsverantwortung übernehmen“, so Thier.

Reinwald bilanziert: „Die Erhöhung des Anteils von Frauen in Top-Führungspositionen insgesamt wäre eine Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit von Glass Cliffs zu senken. Denn eine weibliche Führungskraft wäre nicht mehr das gewollte Signal des Wandels, sondern schlichtweg normal.“

herVIEW herCAREER

Ein Beitrag von herCAREER, 
veröffentlicht bei LinkedIn 15.08.2024