Die Autorin und Podcasterin Patricia Cammarata machte mit ihrem SPIEGEL-Bestseller “Raus aus der Mental Load Falle” den Begriff Mental Load im deutschsprachigen Raum bekannt und hat eine gesellschaftliche Debatte zum Thema Gleichberechtigung angestoßen. In ihrem neuen Buch “Musterbruch” zeigt sie Wege auf, wie Paare aus eingefahrenen Geschlechtermustern ausbrechen können. Im Gespräch erzählt sie, warum Geld kein Totschlag-Argument sein sollte und wie sie heute selbst Gleichberechtigung lebt.
„Gerecht ist es meiner Meinung nach dann, wenn bei beiden Partnern kein Grund-Groll da ist.“
herCAREER: Patricia, die Zahl der Väter, die sich selbst als emanzipiert betrachten, und derjenigen, die wirklich die Hälfte der Sorgearbeit übernehmen, weicht stark voneinander ab. Weshalb sollten Väter ein Interesse daran haben, mehr unbezahlte Arbeit zu übernehmen?
Patricia Cammarata: Männer können eine engere Bindung zum ihrem Kind aufbauen. Viele leiden darunter, sich neben der Mutter zweitklassig zu fühlen, wenn sie diese Bindung nicht haben. Mehrere Bezugspersonen machen Kinder zudem gesünder und resilienter. Der Beginn der Elternzeit ist außerdem eine Art trojanisches Pferd für die Gleichberechtigung – wer sich jetzt engagiert, engagiert sich nachhaltig in Haushalt und Kinderbetreuung. Und das ist nicht nur gut, weil es gleichberechtigt ist, sondern es trägt auch zur Zufriedenheit in der Partnerschaft bei.
herCAREER: Und die Frauen würden entlastet, richtig?
Patricia Cammarata: Je mehr Ressourcen Frauen haben, desto mehr können sie sie auch in Erwerbstätigkeit stecken. Das wirkt sich positiv auf das Gehalt und die Karriere – wie auch immer man diese definiert – aus. Und das wiederum macht eine Familie insgesamt resilienter, weil man nicht nur von einem Einkommen abhängt. Man gewinnt die Flexibilität, Arbeitgeber:innen wählen und auch verlassen zu können. Für mich ist der Hauptgrund allerdings simpel: Zwei Menschen entscheiden sich gemeinsam für eine Familie. Dann können auch die Belastungen so aufgeteilt werden, dass es gerecht ist.
herCAREER: Dass Männer Elternzeit nehmen, ist ja noch nicht die Regel.
Patricia Cammarata: Fast 60% der Väter gehen keinen einzigen Tag in Elternzeit.
herCAREER: Wo die Politik etwas trödelt, ergreifen manche Unternehmen eigene Maßnahmen. SAP beispielsweise stellt Väter nach der Geburt eines Kindes sechs Wochen bezahlt frei, damit sie sich um die Familie kümmern können. Wie findest du das?
Patricia Cammarata: Politische Regelungen erzeugen mehr Druck als Entscheidungen einzelner Unternehmen. Ich finde es trotzdem ein starkes Zeichen, solche Programme aufzusetzen. Es ist dem Fachkräftemangel geschuldet, dass Unternehmen sich fragen: Was können wir jenseits der Gehälter tun, um attraktiv zu bleiben? Gerade mittelständische Unternehmen, die nicht mit Konzern-Gehältern konkurrieren können, können mit guten Arbeitsbedingungen Kandidat:innen gewinnen. Es geht ja nicht nur um Kinderbetreuung, in Zukunft wird die Pflege von Angehörigen noch eine viel größere Rolle spielen. Und es rechnet sich für die Unternehmen, sonst würden sie es nicht tun.
herCAREER: Dein Vorgängerbuch hieß “Raus aus der Mental Load Falle” – für alle, denen es noch nicht bewusst ist: Was sind Mental Load und Emotionsarbeit?
Patricia Cammarata: Für mich ist Mental Load die planerische und die emotionale Verantwortung, die meist eine Person in der Familie übernimmt, damit der Alltag für alle Familienmitglieder funktioniert. Das sind keine klassischen To Dos, sondern die unsichtbaren Anteile der Sorgearbeit. Wer denkt daran? Wer initiiert es? Wer kümmert sich denn darum, dass Konflikte angesprochen und aufgearbeitet werden? Das ist oft in Frauenhand, obwohl nichts dagegenspricht, dass sich Männer hier genauso einbringen.
herCAREER: Dein neues Buch heißt “Musterbruch”. Wie lassen sich diese tiefsitzenden Rollenzuschreibungen aufbrechen?
Patricia Cammarata: Wir wissen aus der Forschung, dass wir mit großer Zuversicht, was Gleichberechtigung angeht, in die Familiengründung gehen. Dann rutscht man schrittweise über Monate und Jahre in eine klassischere Rollenverteilung hinein. Und irgendwann, meist in einer Überforderungssituation, denkt man sich: Moment, was ist hier eigentlich passiert? Wir haben uns das eigentlich anders vorgestellt.
herCAREER: Wie kann man das verhindern?
Patricia Cammarata: Die große Kunst ist, so banal es klingt, im Vorfeld zu planen. Die Verteilung der Elternzeit gehört dazu, aber auch: Wie sieht die restliche Sorgearbeit aus? Selbst wenn sich eine Frau dafür entscheidet, zu stillen, und deshalb einen Großteil der Elternzeit übernimmt, heißt das ja nicht, dass alles andere auch auf ihrem Tisch landen muss, im Gegenteil.
herCAREER: Dein Buch, hast du geschrieben, soll ein “Klobuch” sein. Was meinst du damit?
Patricia Cammarata: Ich wünsche mir, dass solche Bücher wirklich gelesen werden. Vor allem Menschen mit kleinen Kindern haben selten die Zeit und Muße, ein Buch in die Hand zu nehmen. Das Klo steht symbolisch für die fünf Minuten, die man mal zwischen Tür und Angel Zeit hat. In meinem Buch schafft man hier ein Kapitel. Dann kann man es wieder zwei Wochen liegen lassen.
herCAREER: Würdest du eine Beziehung trotzdem als gelungen ansehen, selbst wenn die Kompromisse diesbezüglich groß sind?
Patricia Cammarata: Das beurteilt jedes Paar selbst. Zu sagen, nur 50:50 ist gerecht, stimmt so auch nicht. Es gibt unterschiedliche Energie-Level und Vorlieben. Gerecht ist es meiner Meinung nach dann, wenn bei beiden Partnern kein Grund-Groll da ist. Es lohnt sich, sich als Paar zu fragen: Ist alles auf unserer To-Do-Liste wirklich nötig? Machen wir das, weil wir das wollen oder weil wir uns gezwungen sehen? Was können wir uns einfacher machen? Was können wir auslagern?
herCAREER: In deinem Buch entkräftest du die gängigsten Argumente, die heterosexuelle Paare in klassischen Rollen halten. Ich picke mal eines raus: Er verdient halt mehr, was soll man da machen?
Patricia Cammarata: Wenn wir von einem Paar ausgehen, das nicht prekär lebt, wo es also nicht auf jeden Euro ankommt, finde ich das Geld-Argument schwierig. Ich würde anstelle dessen lieber über Zeit sprechen in Bezug zu diesen drei Variablen: die Beziehung zu anderen Menschen, die Erholung und Freizeit sowie der Zugang zu Geld. Wie können wir den gleichen Zugang zu allem für beide Partner gewährleisten?
herCAREER: Du hast “Musterbruch” deinem heutigen Partner gewidmet: “Marcus, seit ich mit Dir zusammen bin, weiß ich: Wahre Liebe muss nicht wehtun, wahre Liebe weiß, wo das U-Heft liegt.” Kannst du mit deinem heutigen Partner Gleichberechtigung leben?
Patricia Cammarata: Absolut. Wir kämpfen aber mindestens wöchentlich, manchmal täglich dafür. Und das ist auch eine Botschaft, die mir wichtig ist: Gelebte Gleichberechtigung ist kontinuierliche Arbeit, weil sich unser Leben und unsere Aufgaben immer ändern.
herCAREER: Du hast geschrieben: “Der politisch-gesellschaftliche Druck, Frauen in die Erwerbswelt zu integrieren, war die letzten Jahre größer, als Männer in die unbezahlte Sorgearbeit einzubinden” – braucht es dazu mehr mutige Männer oder radikalere politische Entscheidungen?
Patricia Cammarata: Es ist nie “oder”, sondern immer “und”. Die Politik muss gar nicht radikal sein. Aber sie könnte zum Beispiel die EU-Vorgabe umsetzen, die Partner nach der Geburt zwei Wochen freistellt. Die größte Lücke besteht aber meiner Meinung nach bei Konzepten, die Sorgearbeit generell wertschätzen. Wir haben kein kostenloses, qualitativ hochwertiges Pflegesystem. Im Gegenteil, gerade die Kinderbetreuung bröckelt ja vor sich hin, wenn sie überhaupt verfügbar ist. Die Unsicherheit der Betreuungssituation hat schon einige Frauen sagen lassen: O.k., dann muss ich das selber machen und gehe aus der Erwerbsarbeit. Es sollte auch bei den Kosten der Kinderbetreuung nicht derart große Unterschiede geben. Sonst heißt es schnell: Da lohnt es sich gar nicht mehr, arbeiten zu gehen.
herCAREER: Ist Teilzeit nun eigentlich die Lösung oder das Problem einer mangelnden De-facto-Gleichberechtigung?
Patricia Cammarata: Teilzeit reduziert natürlich das Einkommen und somit auch die Altersvorsorge. Ich bin eine Verfechterin der Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Es gibt Modellversuche im großen Rahmen, die viele Vorteile zeigen. Den Leuten tut es gut, Vereinbarkeit wird möglich, psychische Erkrankungen und Arbeitsunfälle gehen zurück. Die Unternehmensgewinne gehen nicht zurück. Deswegen finde ich, sollte dieses Modell nicht den Feldstudien vorbehalten sein. Es ist nicht so lange her, als wir in den Sechzigerjahren von 48 auf 40 Stunden runtergegangen sind. Damals war das auch undenkbar.
herCAREER: Wenn jede:r nur eine wichtige Zahl zur “Gender Care Gap” kennen sollte, welche wäre das?
Patricia Cammarata: Das sind die 111% mehr Sorgearbeit, die Frauen in der Rushhour des Lebens mehr leisten als Männer. Viele denken, die Erschöpfung läge an ihnen selbst, sie reißen sich nicht zusammen, schaffen nicht genug, sind nicht organisiert genug. Das ist aber eine Durchschnittszahl, die mehr bekannt sein sollte, um Frauen dieses schlechte Gefühl zu nehmen.
Das Interview führte herCAREER-Chefredakteurin Julia Hägele.
Über die Person
Patricia Cammarata ist Diplompsychologin und gefragte Keynote-Speakerin zum Thema Vereinbarkeit und Gleichberechtigung. Mit ihrem SPIEGEL-Bestseller »Raus aus der Mental Load Falle« machte sie den Begriff Mental Load im deutschsprachigen Raum bekannt und hat eine breite gesellschaftliche Debatte zum Thema Gleichberechtigung angestoßen. Für ihr Blog »dasnuf« gewann sie zahlreiche Preise, ihre Podcasts »Mit Kindern leben« und »Nur 30 Minuten« werden von mehreren Tausend Menschen gehört. Mit ihren Kindern und ihrem Partner lebt sie in Berlin.
Am 18. Oktober 2024 ist Patricia Cammarata zu Gast beim Authors-MeetUp auf der herCAREER Expo. Ort und Zeitpunkt finden Sie im Programm.