„Der Frust im Job ist erschreckend hoch“

Dienst nach Vorschrift, Unzufriedenheit und Frust im Job? Das ist weit verbreitet, muss aber nicht sein. Die renommierte Topmanagement-Beraterin und ehemalige MDAX-Vorständin Heidi Stopper zeigt in ihrem Vortrag „Chance auf Wachstum: Wege aus der Unzufriedenheit im Job“ wie wir der Frustfalle entkommen.

Wege aus dem Jobfrust

Etwa 75.200 Stunden verbringen wir innerhalb eines Lebens im Vollzeitjob. Diese Zeit sollte eine gute sein. Leider ist häufig das Gegenteil der Fall, wie Heidi Stopper im Interview mit der herCAREER erzählt. Heidi Stopper muss es wissen: sie hat 30 Jahre Erfahrung als Personalleiterin und ist gefragte Coach und Beraterin für Topmanager und Topmanagerinnen. Im Interview erzählt sie der herCAREER vorab, wie Führungskräfte und MitarbeiterInnen dem Frust im Job entkommen. Denn vieles am Frust sei hausgemacht: von der Firmenpolitik und den Betroffenen selbst.

herCAREER: Der Gallup Engagement Index zeigt jährlich, dass rund zwei Drittel der deutschen ArbeitnehmerInnen Dienst nach Vorschrift machen. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Befragungen wie Gallup Survey sollten nicht überbewertet werden, aber: Es ist erschreckend, wie viele Menschen sich frustriert in ihre Jobs schleppen und täglich kämpfen. Ich berate Führungskräfte ab dem mittleren Management bis zum Toplevel und kann das bestätigen: trotz ihrer hohen Qualifikationen, ihrer internationalen Erfahrung und großen Erfolgsgeschichten  gibt es sehr viel Frust und Leidensdruck.

herCAREER: Was sind die typischen Ursachen für Frust im Job?

Ursache Nummer Eins ist bei meinen KlientInnen die sogenannte Firmenpolitik. Die dahinter verborgenen Macht- und Beziehungskonstruktionen in Unternehmen sind häufig der Quell vielen Elends und Leidens, selbst schon auf Mitarbeiterebene. Und es wird nicht besser, wenn man im Unternehmen aufsteigt.

herCAREER: Wie kann das sein? „Die da oben“ machen doch die Firmenpolitik, würde man meinen.

Es ist nicht so, dass die Sonne da oben heller scheint – das sieht nur von unten so aus. Da oben ist man auch nicht frei, sondern vor allem Mitarbeitern, Shareholdern, Aufsichtsräten, dem Kapitalmarkt verpflichtet. Hinzu kommt: In den oberen Etagen treffen nur noch starke Charaktere aufeinander, die gewohnt sind, sich durchzusetzen und richtig zu liegen. Die Auseinandersetzungen werden mit harten Bandagen ausgefochten. Das liegt nicht daran, dass oben lauter Egomanen sitzen, sondern an der ständigen Ressourcenknappheit. Es kann nie jeder in dem Maße seine Themen durchsetzen, wie er möchte, weil es immer Engpässe gibt. Meist geht es um Verteilungs- und Bedeutungskämpfe und zwischenmenschliche Konflikte und unterschiedliche Interessen. Die Beziehungsebene ist für alle oft schwer auszuhalten und es lohnt sich daher für jeden, frühzeitig zu lernen, von der Sach- zur Beziehungsebene den Blick zu wechseln. Man muss kein Politiker sein oder werden, aber seine eigene Klaviatur auf dieses Feld etwas erweitern. Das kann jeder lernen und üben. Für Führungskräfte ist es ein ‚Muss‘.

herCAREER: Wir leben in einer volatilen, ungewissen Wirtschaftswelt. Bemerken Sie einen starken Veränderungs- und Entscheidungsdruck im Management?

Ja, in den vergangenen Jahren ist der Veränderungsdruck gewaltig gestiegen. Es gibt kaum eine Branche, die nicht von der Digitalisierung berührt wurde. Corona wirkt hier noch wie ein Brandbeschleuniger. Es ist andererseits immer noch erschreckend, wie wenig weit die Digitalisierung und moderne Führungs- und Organisationsentwicklung in deutschen Unternehmen vorgedrungen ist.  Der Veränderungsdruck ist weiterhin sehr groß, das Problem ist: Der Druck lastet stark auf den Führungskräften – und unter Druck ist Veränderung am schwersten. Das ist ein großes Dilemma. Hier sind wir bei einem weiteren Frustthema: Die Führungskräfte spüren instinktiv, dass sie ihre Handlungsoptionen erweitern müssen, greifen aber unter diesem großen Druck auf alte Verhaltensmuster zurück. Früher hat man gesagt, unter Druck werden Diamanten geschaffen, aber das passt heute nicht mehr. Stretching ist gut,  Überstretchen führt allerdings in der Regel zu Stagnation, Altbewährtem oder der Orientierung an dem, was andere tun. Für diese Erkenntnis gab es bereits einen Wirtschaftsnobelpreis. Mit Stagnation können erfolgsverwöhnte Menschen wiederum schlecht umgehen: sie sind es gewöhnt, voranzugehen.

herCAREER: Manager und Opferrolle – wie passt das zusammen?

Zu mir kommen immer wieder Manager, die zwar sicher keine Opfertypen sind, die sich aber dennoch irgendwann schleichend durch Machtkämpfe in die Opferrolle gedrängt fühlen und darunter leiden. Sie setzen sich nicht mehr durch, jemand anderes entscheidet über sie. Dadurch entsteht partielle Hilflosigkeit und massive Verunsicherung. Das generiert eine ungute Spirale und sehr viel Frust, wie bei jedem Menschen. Bei der Arbeit gibt es aber immer Möglichkeiten aus der Opferrolle selbst heraus zu treten und bei Führungskräften ist das auch im Firmeninteresse dringend nötig.

herCAREER: Man kaskadiert im agilen Arbeiten auch immer mehr Entscheidungen nach unten an die Basis der Belegschaft. Ist das mit ein Grund, warum Führungskräfte und Arbeitnehmer mit ihrer Rolle hadern?

Ja, im Kern bedeutet agiles Arbeiten Demokratisierung und Umverteilung von Entscheidungsprozessen. Das bringt komplett neue Rollenverständnisse und Anforderungen an alle Beteiligten mit. Für Führungskräfte, die in traditionellen Führungskulturen sozialisiert wurden, ist das Revolution oder zumindest eine gewaltige Herausforderung – für die Mitarbeiter aber auch. Über- und Unterforderungen, unklare Rollen, fehlender Sinn der eigenen Tätigkeit sind gerade in Veränderungen Risiken, die immer unterschätztes Frustpotential bergen.

herCAREER: Mit neuer Arbeitswelt meint man oft auch Sinnfindung und Potenzialentfaltung. Kommen Ihre Kunden auch mit diesen Themen zu Ihnen?

Das Thema Potenzialentfaltung ist ein Dauerbrenner bei Menschen jeder Hierarchieebene: zu schärfen, wo liegen meine Potenziale, meine Stärken, worin bin ich besser als andere? Wie kann ich meine PS auf die Straße bringen und welches Umfeld benötige ich dafür?  Das Thema Sinnhaftigkeit begegnete mir besonders bei meinen Kunden ab 40. Davor hat die Karriere oft irgendwie automatisch stattgefunden, sie wurden gefordert und gefördert. Dann kommen sie an einen Punkt, wo sie sich fragen: wie will ich das letzte Drittel meiner Karriere bewusst und aktiv für mich gestalten? Was ist für mich sinnhaft? Oder man ist am Zenit seiner Karriere angelangt, hat alles erreicht und dann stellt sich die Frage: was jetzt? Ich arbeite dann mit diesen KlientInnen an einer Refokussierung, viele entscheiden sich für einen inhaltlichen Berufs- oder Branchenwechsel. Sie merken, dass sie nicht unsterblich sind und stellen die Weichen für sich selbst neu. Das ist eine sehr gesunde Herangehensweise, wie ich finde, die häufig schon früher nötig wäre.  Derzeit habe ich sehr viele Anfragen zu Karrierecoachings und es ist auffällig, wie viele gerade am Nachdenken sind, wie die nächsten Berufsjahre für sie aussehen sollen. Offensichtlich ist ‚back to normal‘ nach Corona für viele nicht erstrebenswert.

herCAREER: Nicht immer können wir die äußeren Umstände ändern, wenn wir frustriert sind. Was dann?

Frust entsteht ja immer in uns – auch wenn wir glauben, der andere ist der Frustgenerator. Der andere setzt nur einen Reiz und wir reagieren. Hinzu kommt: Wenn wir nah an Themen rangehen, beginnen wir, uns daran aufzureiben und alles persönlich zu nehmen. Dann ist uns die Distanz verlorengegangen. Gerade in dieser hochkomplexen, schnelllebigen Zeit tendieren wir im Hamsterrad dazu, die nötige Distanz zu den Dingen zu verlieren. Das Gute ist: wenn wir Teil des Problems sind, können wir auch Teil der Lösung sein. Wir können selbst die Weichen stellen und daran arbeiten, wie wir mit den äußeren Rahmenbedingungen umgehen. Dazu gibt es viele Techniken, die wir selbst anwenden können.

herCAREER: Welche zum Beispiel?

Wir müssen uns unserer Denkfallen bewusst werden, sie spielen eine große Rolle beim Jobfrust. Ein Beispiel: bei einem Kunden passierte ein gewaltiger Fehler, den er mitzuverantworten hatte. Er hat daraus geschlossen, er sei der Fehler, hat sich immer kleiner gemacht und nichts mehr zugetraut. Nach einem Jahr hat er dann seinen Job verloren. Ein absoluter Tiefpunkt, der ihn noch in seiner Haltung bestätigt hat. Heute arbeitet er wieder erfolgreich und schüttelt den Kopf über die negative Spirale, die da ihren Weg genommen hatte. Das war allerdings ein längerer Weg aus dem gedanklichen Sumpf. Wir können verhindern, dass wir in die Abwärtsspirale geraten. Zwei einfache Ansätze leiten sich aus dem ‚Growth Mindset‘ ab: Der erste ist Dankbarkeit, also seinen Blick auf alles zu richten, was gut ist und für das man dankbar ist. Der zweite ist, sich bei Schwierigkeiten zu fragen: “Wie werde ich dadurch morgen besser sein, was werde ich besser können?“ Der dritte Ansatz ist selbsterklärend: ein Netzwerk, das stärkend  und ermutigend auf uns wirkt, ist Gold wert und lohnt sich aufgebaut zu werden.

herCAREER: Inwiefern spielen Fehlbesetzungen bei der Unzufriedenheit im Job eine Rolle?

Ich habe in meiner Personalleiterkarriere immer wieder brillante Leute getroffen, die auf ihrem Platz nicht ihre PS auf die Straße bringen konnten. Das ist so, wie wenn man einen Elefant an den Nordpol setzt und zu ihm sagt: selbst schuld, wenn du frierst, dann renn‘ halt schneller.  Ich denke, man macht sich generell bei Einstellungen oder Beförderungen  zu wenige Gedanken, ob derjenige tatsächlich mit seinen Stärken in diese Position passt und das Umfeld das Richtige ist. Manche blühen in ihrem Umfeld auf, andere verkümmern. Solche Fehlbesetzungen sind sehr kostenintensiv für Unternehmen. Es ist aber auch mindestens so fatal für denjenigen, der falsch besetzt wurde. Das System sagt ihm nämlich nicht: du wurdest falsch besetzt, geh lieber woandershin, wo deine tollen Stärken und Kompetenzen zum Tragen kommen. Sondern es sagt: du musst dich mehr anstrengen, du musst so sein und dies machen. Das System suggeriert, dass das Individuum das Problem ist und nicht das Umfeld. Das kann dazu führen, dass die betroffenen Leute in ein Loch fallen, aus dem sie nur schwer und mit Unterstützung wieder herauskommen. Wir müssen uns daher ein Netzwerk aufbauen, das uns stärkt und uns ermutigt und uns in solchen Situationen hilft.

herCAREER: Bemerken Sie einen Unterschied zwischen Männern und Frauen in Sachen Jobfrust?

Es gibt wahrnehmbare kleine Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Frauen haben tendenziell ein ansozialisiertes Harmoniebedürfnis und nehmen Kritik eher persönlich. Konflikte haben bei uns Frauen ein größeres Frustpotential und sind bei meinen Kundinnen oft ein starker Frustfaktor. Männer sind aber auch nicht frei davon.

herCAREER: Frauen als Minderheit in Vorständen haben es aber wohl nicht so einfach? Wie sind hier Ihre Erfahrungen?

Meine Kunden sind zu 70 Prozent männlich und haben alle komplexe Probleme zu bewältigen. Die Frauen, mit denen ich arbeite,  haben zu den Problemen der Männer noch zusätzliche Herausforderungen. Frauen werden nach anderen Kriterien beurteilt als Männer: von uns werden weiche Skills in Perfektion erwartet – dass wir kommunikationsstark, empathisch, nett und harmoniebringend sind. Wenn eine Frau mal auf den Tisch haut und sich durchsetzt – was hin und wieder nötig ist – , wird das sehr häufig negativ bewertet. Beim Mann würde das hingegen als positiv gesehen. Bei Frauen sind Handlungsmaximen wie „Gefalle anderen“ oder „Stelle Harmonie her“, mit Sicherheit stärker ausgeprägt. Das führt zu zusätzlicher Frustration und Arbeitsdruck. Hinzu kommt, dass Frauen in Führungspositionen fast immer aus einer Minderheitsposition agieren. Das ist kraftraubend und aufreibend.

herCAREER: Ab welchem Punkt sollte man den Job wechseln?

Mein Motto ist: Man muss mindestens drei Tage die Woche mit Begeisterung oder zumindest gerne zur Arbeit gehen – wenn man eine gute Ausbildung hat, ist das möglich. Natürlich gibt es toxische Situationen, die man schnell verlassen sollte. Ansonsten ist das nicht immer notwendig. Wenn das Problem in einem selbst liegt, nimmt man es nämlich überallhin mit – und das sorgt oft für noch größeren Frust. Manche meiner Kunden haben beim dritten Arbeitgeber dasselbe Problem. Dann ist es gut, mal in Reflexion zu gehen, was man selbst verändern könnte. Es ist immer besser, in einem bestehenden Verhältnis neue Verhaltensweisen zu lernen als bei einem neuen Arbeitgeber während der stressigen Einarbeitungszeit.

Über die Person

Die renommierte Topmanagement- und Karriereberaterin Heidi Stopper kann auf eine langjährige Führungskarriere unter anderem als Personal-Vorständin bei der ProSieben Sat1 Medien AG und als Vice President Human Resources für EADS Astrium Satellites zurückblicken. Im Jahr 2006 gründete sie ihre Consulting-Firma Stopper Coaching und Beratung. Zu ihren KlientInnen zählen hochrangige Executives und Vorstandsmitglieder. Auf der herCAREER 2021 wird Heidi Stopper wieder mit dabei sein.

Hier finden Sie die aktuelle Pressemitteilung von Heidi Stopper.

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