Ayla Işik, die eigentlich anders heißt, ist in einer streng muslimischen Familie aufgewachsen. Über ihren Weg zu einem völlig selbstbestimmten Leben hat sie das Buch “Behauptet – Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit” geschrieben. Im Interview erzählt sie, wie es war, das Kopftuch nach mehr als 20 Jahren endgültig abzulegen, mit welchen Widerständen sie zu tun hatte und wie sie ihren Glauben heute lebt.
„Mein Glaube ist eine persönliche Angelegenheit. Er gibt mir Kraft, Halt und Orientierung.“
herCAREER: Ayla, du hast die streng muslimische Community hinter dir gelassen, in der du aufgewachsen bist – für ein Leben in völliger Selbstbestimmung. Bist du mit deiner Entscheidung im Einklang?
Ayla Işik: Ich habe mit meiner Entscheidung nie gehadert. Ich bin generell kein Mensch, der grübelt und bereut. Obwohl ein paar Sachen anders hätten laufen können.
herCAREER: Was hätte anders laufen können?
Ayla Işik: Ich habe mich von manchen Familienmitgliedern im Stich gelassen gefühlt und es gab wenig Verständnis – viele waren nicht imstande, zuzuhören und zu versuchen, zu verstehen, was mein Wunsch und Antrieb war. Ich wollte mich weder vom Glauben abwenden noch alles auf den Kopf stellen. Es ging und geht mir um Selbstbestimmung. Da hätte ich mir mehr Offenheit, Mitgefühl und Respekt für meine Entscheidungen gewünscht.
herCAREER: Wie sah dein Leben vor deiner Entscheidung aus?
Ayla Işik: Ich komme aus einer sehr religiösen muslimischen Familie. Jede Familie hat unterschiedliche Nuancen, bei uns ging es sehr werteorientiert, liebevoll und verständnisvoll zu, aber natürlich auch den religiösen Regeln folgend. Ich hatte früh Verantwortung für meine fünf jüngeren Brüder. Ich habe mich mit 16 verliebt, eine Beziehung ohne Heirat war aber ein No-Go. So war ich mit 16 verlobt und mit 18 verheiratet. Dann habe ich noch mein Abitur gemacht und mit 21 das erste meiner drei Kinder bekommen.
herCAREER: Deine eigene Mutter hat kritische theologische Fragen gestellt, was du als junges Mädchen nicht gut fandest. Noch weniger gut fandest du aber, welche Ablehnung sie daraufhin erfahren hat. Wie hat dich diese Erfahrung geprägt?
Ayla Işik: Meine Mutter begann nach den Offenbarungsgründen für die Koranverse zu recherchieren, was das Kopftuch betrifft. Ich bekam mit, wie die muslimische Community mit Ablehnung reagierte. Das hat mich durchgewirbelt. Es dauerte dann zwar noch fünf Jahre, aber irgendwann musste ich die Frage für mich beantworten, wie ich leben will. Ich habe innerhalb dieser fünf Jahre vieles beobachtet und selbst hinterfragt und musste irgendwann einsehen, dass ich mich von meinem Mann trennen muss, wenn ich mir und meinen Werten treu sein möchte. Wir lebten damals in einem Einfamilienhaus. Ich wollte, dass er auszieht. Es hieß, wer die Familie verlassen will, muss gehen – und das war ich. Da war ich 32 Jahre alt und meine Kinder 4, 6 und 11 Jahre. Ich zog an einem Montagmorgen aus und dann begann mein neues Leben.
herCAREER: Wie war das für dich?
Ayla Işik: Alles fing bei null an: in die erste eigene Wohnung ziehen, Strom anmelden, zum Jobcenter gehen, mich um meine Ausbildung kümmern, mich um Arbeit kümmern – es war eine Odyssee. Ich trug noch Kopftuch, war Hartz-IV-Empfängerin mit drei Kindern, hatte keine Arbeit – finde da mal eine Wohnung und einen Job! Man muss verstehen, dass ich zuvor finanziell, sozial und religiös eingebunden war und all das auf einen Schlag verlor.
herCAREER: Was war das Härteste, das du auf deinem Weg hinnehmen musstest?
Ayla Işik: Die Trennung von den Kindern war rückblickend von allem das Schlimmste. Ich habe sie oft gesehen, aber ihren Alltag nicht mehr so mitbekommen wie zuvor. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich mich mit der Situation abgefunden hatte. Ich musste mit den Meinungen und Sprüchen der anderen umgehen: “Was bist du nur für eine schlechte Mutter! Dein Mann hat dich doch nicht geschlagen oder betrogen, was willst du?” – aber nicht nur das, ich musste auch mit meinem eigenen schlechten Gewissen klarkommen.
herCAREER: Welche Regelungen habt ihr bezüglich der Kinder getroffen?
Ayla Işik: Wir haben es ohne Gericht geklärt, es war nicht immer einfach – mein Ex-Mann war ja auch sehr gekränkt. Meine erste Wohnung war drei Kilometer von den Kindern entfernt. Ich habe sie regelmäßig vom Kindergarten oder aus der Schule abgeholt und so viel Zeit, wie es möglich war, mit ihnen verbracht.
herCAREER: Wie ging es deinem Ex-Mann nach der Trennung?
Ayla Işik: Mein Ex-Mann hat nur wenige Monate nach unserer Trennung wieder geheiratet. Sie sind dann weggezogen. Ich habe dann einen Studienplatz in Essen bekommen und bin auch weggezogen. Meine Kinder und ich haben uns trotzdem jedes Wochenende gesehen. Die Stief-Mama ist eine tolle Ersatz-Mama, ich bin sehr froh, dass sie meine “Nachfolge” angetreten hat. Ich habe sie nur meinem Sohn zuliebe getroffen, aber schnell gemerkt, wenn sie nicht die neue Frau meines Ex-Mannes wäre, dann wären wir wahrscheinlich Freundinnen geworden.
herCAREER: Für ein selbstbestimmtes Leben musstest du viel aufgeben. Andere Frauen – ob Musliminnen oder nicht – bekommen es einfach geschenkt. Hat dich das zur Bitterkeit verleitet?
Ayla Işik: Ich kenne keine Bitterkeit. Bitterkeit würde nur in die Hände derjenigen spielen, die mir mein Glück nicht gönnen – und davon gibt es leider genug.
herCAREER: Was würdest du jungen Frauen raten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie du damals?
Ayla Işik: Ich kann jede Frau ermutigen, bereits vor einer möglichen Heirat herauszufinden, wer sie ist, was ihr wichtig ist im Leben, welche Wünsche und Bedürfnisse sie hat. Ich würde empfehlen, um alles, was diesen Träumen und Bedürfnissen im Weg steht, einen großen Bogen zu machen. Erfahrungen jeder Art zu machen, ist ungemein wertvoll. Ich bin dankbar für alle Entscheidungen und Fehlentscheidungen, die ich selbst treffen konnte.
herCAREER: Warum hast du dein Buch unter Pseudonym geschrieben?
Ayla Işik: Das hatte in erster Linie rechtliche Gründe. Meine Wahl war es aber nicht.
herCAREER: Im Alter von 33 Jahren hast du dein Kopftuch abgelegt. Für viele gläubige Musliminnen ist es ein Zeichen ihrer Verbundenheit mit Gott, für viele andere nur ein unpraktisches Kleidungsstück, für viele gar ein Zeichen der Unterdrückung. Wie kam es zu deiner Entscheidung?
Ayla Işik: Ich habe im Alter von 11 Jahren angefangen, Kopftuch zu tragen, ohne es jemals zu hinterfragen. Ich finde, jede Muslima soll selbst entscheiden, ob sie Kopftuch tragen will oder nicht. Wer aber meint, durch das Tragen eines Kopftuchs spirituell und religiös überlegen zu sein, täuscht sich meiner Meinung nach. Das ist nicht religiös, sondern arrogant.
herCAREER: Und wieso hast du es abgelegt?
Ayla Işik: Ich hatte es in den besagten fünf Jahren immer mal wieder kurzzeitig abgelegt. Dann, nach der Trennung, war ich auf einer Müttergenesungskur, es war Winter. Ich bin die Jahre zuvor morgens immer mit Mütze laufen gegangen. Auch an diesem Morgen auf der Kur. Und während des Laufs habe ich die Mütze einfach abgenommen. Das Kopftuch soll Frauen eigentlich vor fremden Blicken schützen. Ich war aber morgens um 6 Uhr auf einer Nordseeinsel laufen, und da war niemand. Das Kurheim war außerdem ein reines Frauen-Kurheim. Für mich also eine gute Gelegenheit, um meine Entscheidung in Ruhe zu durchdenken. Aber nach drei Wochen blieb ich dabei.
herCAREER: Wie war es für dich?
Ayla Işik: Ich hatte Hemmungen und Schamgefühle, aber im sicheren Raum der Kur habe ich mich mit der Möglichkeit angefreundet, kein Kopftuch mehr zu tragen – nirgendwo mehr. In den ersten Wochen, als ich wieder zurück war, habe ich mich komisch gefühlt. Es hat gedauert, dieser Prozess war physischer, als man denkt. Es war auf einmal kalt im Nacken, es ist ein ganz anderes Körpergefühl. Physisch und psychisch ist man erstmal nackt, ohne Schutz. Heute würde ich es nicht mehr aufsetzen wollen.
herCAREER: Was bedeutet dir dein Glaube heute, auch ohne Kopftuch?
Ayla Işik: Mein Glaube ist eine persönliche Angelegenheit. Er gibt mir Kraft, Halt und Orientierung. Er ist die Grundlage meines Vertrauens in die Welt. Mein Glaubensverständnis ist, dass die Regeln sich den Werten unterordnen – so, wie ich es in meiner Ursprungsfamilie gelernt und vorgelebt habe. Heute lebe ich nach humanistischen zwischenmenschlichen Werten und richte auch meinen Glauben danach aus.
herCAREER: Gibt es Momente, in denen du deine ehemalige muslimische Community vermisst?
Ayla Işik: Die gibt es schon. Rituale wie der Ramadan sind schöner in Gemeinschaft. Aber dann fällt mir wieder ein, mit welchen Bedingungen diese Gemeinschaft einhergeht.
herCAREER: Kassensturz: Was hast du verloren, was gewonnen durch deine Entscheidung?
Ayla Işik: Ich habe die Fremdbestimmung verloren und die Selbstbestimmung gewonnen. Ich habe es geschafft, meinen Kindern vorzuleben, was es bedeutet, wenn man sich selbst treu bleibt. Gotteserkenntnis kommt nur durch Selbsterkenntnis, hat auch der islamische Gelehrte Rumi gesagt.
Das Interview führte herCAREER-Chefredakteurin Julia Hägele.
Über die Person
Ayla Isik ist 43 Jahre alt, lebt in Köln und ist Autorin und Mutter von drei Kindern. Bis zu ihrem 33. Lebensjahr praktiziert sie pflichtbewusst ihre Religion, den Islam. Als sie anfängt, kritische Fragen zu stellen und Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, beginnt eine schwierige Phase, die sie psychisch und physisch an ihre Grenzen bringt. Von ihrer Community ausgegrenzt, beginnt sie ein völlig neues Leben, ohne Mann und ihre Kinder. Sie beendet ihre Ausbildung zur Heilpraktikerin, lernt, was es bedeutet, für das eigene Leben Verantwortung übernehmen zu müssen, und studiert Journalismus und PR.
Ayla Isik veröffentlichte ihr Buch 2022 aus rechtlichen Gründen unter einem Pseudonym. Neben ihrer Autorentätigkeit ist sie theologische und kulturelle Fachberaterin, Mentorin, Wertebotschafterin und Trainerin für Mimikresonanz, Anti-Bias und Interkulturalität.
Dieses Interview bezieht sich auf ein Authors-MeetUp der herCAREER Expo 2024, Ort und Zeitpunkt finden Sie im Programm.