Valerie Schönian wurde 1990 in Gardelegen, Sachsen-Anhalt geboren. Ihre Geburtsurkunde ist noch von der Deutschen Demokratischen Republik ausgestellt, kurz danach trägt sie bereits Pampers aus dem Westen und wächst ohne Grenzen auf. Trotzdem entdeckt sie ihr “Ostbewusstsein”. In ihrem gleichnamigen Buch geht sie der ostdeutschen Identität der Nachwendekinder auf den Grund. Im Gespräch erzählt sie, warum gelungene Wiedervereinigung für sie nicht bedeutet, Unterschiede zu leugnen.
„Es gibt einen Unterschied in den Perspektiven und es ist wichtig, die ostdeutsche Perspektive sichtbar zu machen.“
herCAREER: Valerie, Deutschland ist seit knapp 34 Jahren wiedervereint. Was war passiert, dass du als Nachwendekind ein Bewusstsein dafür entwickelt hast, Ostdeutsche zu sein?
Valerie Schönian: Dieser Prozess, ich nenne ihn “Ossi-Werdung”, hat 2014 begonnen, als Pegida zu marschieren anfing. Ich stand auf einer Gegendemo in München, wo ich gerade die Deutsche Journalistenschule besuchte, und merkte: Irgendetwas unterscheidet mich und die Leute um mich herum. Es wurden Klischees aus der Schublade geholt, von denen ich dachte, dass es sie gar nicht mehr gibt. Während ich mehrheitlich Wütende in den Pegida-Demonstrant:innen sah, sahen viele im besten Fall “Ostdeutsche” oder gleich “Jammer-Ossis”, die sich immer noch benachteiligt fühlten.
herCAREER: Was hat das mit dir gemacht?
Valerie Schönian: Mir war unwohl, aber ich hatte damals keine Worte dafür. Vor allem wollte ich nicht Pegida verteidigen. Das startete diesen Prozess, der für mich immer noch nicht abgeschlossen ist.
herCAREER: Nachdem dein Interesse für deine Herkunft geweckt worden war, hast du viele Gespräche mit deiner Familie geführt.
Valerie Schönian: Als ich nach Hause kam und erzählte, dass ich ein Buch über die ostdeutsche Identität der Nachwendekinder schreiben will, meinte mein Papa: Was hast du denn noch mit dem Osten zu tun? Ich habe erst nach und nach verstanden, dass meine Eltern ihren Osten haben und ich den meinen – und dass ich auch das Recht habe, mich damit zu beschäftigen. Es gibt eine ostdeutsche Identität der Nachwendekinder, die nichts mit den schlecht gelaunten Demonstrant:innen in Runenschrift-Pullis zu tun hat. Ich will für einen offenen, friedlichen, progressiven Osten streiten.
herCAREER: Was hast du aus den Gesprächen mit deiner Familie mitgenommen?
Valerie Schönian: Ich habe mich zu meiner ostdeutschen Großfamilie an den Tisch gesetzt und gesagt, erzählt doch mal, wo ist das Problem? Eine Tante meinte, dass sie seit 27 Jahren Angst habe, ihren Job zu verlieren, und wenn Angela Merkel sagt: “Deutschland geht es gut”, fragt sie sich: Wen meint sie damit? Wir sprechen als Familie nicht viel über Politik, aber da hat es auf einmal gesprudelt. Es macht etwas mit den Menschen, wenn sie jahrelang nur das “Happy End der Geschichte” feiern sollen, aber immer ein bisschen auf einen herabgeschaut wird.
herCAREER: Hast du ihre Sorgen verstanden?
Valerie Schönian: Ja. Die friedliche Revolution war großartig, gleichzeitig ist in der Nachwendezeit nicht alles eingehalten worden, was versprochen wurde. Der heutige Frust der Ostdeutschen rührt teilweise noch aus dieser Zeit. Als ich diesen Gedanken einmal mit einem 30 Jahre älteren, klugen Journalisten teilte, meinte der nur: Ossi-Gejammer. Da ist mir klar geworden: Es gibt einen Unterschied in den Perspektiven und es ist wichtig, die ostdeutsche Perspektive sichtbar zu machen.
herCAREER: Mit welchen Vorurteilen hat Ostdeutschland, haben Ostdeutsche auch heute noch zu tun?
Valerie Schönian: Nach der Europawahl gingen die Deutschlandkarten rum, auf denen der Westen überwiegend schwarz, der Osten überwiegend blau gewählt hat. Und damit natürlich auch die Frage: Was ist mit den Ostdeutschen los? Ich dachte, dass nach den Correctiv-Recherchen zu den Geheimtreffen der AfD, nach der Hessen-Wahl, bei der die AfD verhältnismäßig gut abschnitt, und nach den bundesweiten Umfragen klar ist, dass die AfD ein gesamtdeutsches und kein ostdeutsches Phänomen ist. Zu sagen: Rechtsextremismus ist ein ostdeutsches Phänomen, greift zu kurz – auch wenn wir über Unterschiede reden müssen.
herCAREER: Hast du dich auch mit Vorurteilen konfrontiert gesehen?
Valerie Schönian: Ich habe wenig abbekommen. Mein Dialekt ist nicht hörbar, aber früher sagte ich noch “Geschörrspüler” und “Körche”. Das habe ich mir dann abgewöhnt. Erst im Buchprozess ist mir klar geworden, wie absurd das eigentlich ist. “Geschörrspüler” versteht ja jede:r.
herCAREER: Wie können wir es als Gesamtgesellschaft schaffen, nicht in gängige Vorurteile oder ein indifferentes “Die drüben ticken einfach anders” abzurutschen?
Valerie Schönian: Ein großer Hebel ist die Repräsentation. Ostdeutsche sind in Wirtschaft, Medien und Politik immer noch unterrepräsentiert. Ich empfehle auch, nach Ostdeutschland in die Städte zu fahren, um zu sehen, wie engagiert die Leute sind. Und zu lesen: Zum Beispiel „Lütten Klein“ von Steffen Mau oder „Zonenkinder“ von Jana Hensel.
herCAREER: Welche Netzwerke gibt es für Ostdeutsche?
Valerie Schönian: Es gibt das junge Netzwerk “Wir sind der Osten”, da bin ich auch dabei, dann gibt es “Dritte Generation Ost” derer, die die DDR noch bewusst erlebten. Und es gibt sehr viele Netzwerke aus dem Osten, die sich wegen der rechtsextremen Entwicklungen zusammenschließen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es wirklich ernst wird, vor allem für Menschen mit sichtbarer Migrationsgeschichte, wenn die Rechtsextremen an die Macht kommen. Das Netzwerk Polylux sammelt Spenden, um sie an diese Initiativen auszuschütten. Die Unabhängigkeit von staatlicher Förderung wird wichtiger, je stärker die Rechten werden.
herCAREER: Für dein Buch hast du dich auf eine Reise durch Ostdeutschland begeben und mit vielen jungen Ostdeutschen gesprochen. Welche Begegnungen haben sich besonders eingebrannt?
Valerie Schönian: Eine Begegnung war mit Konrad Erben aus Jena, Sohn eines Schwarzen Vaters und einer weißen Mutter, in seinem Umfeld der einzige Schwarze Mensch. Wir haben über Rassismus gesprochen, der in Ostdeutschland viel zu alltäglich ist und auch in Wahlentscheidungen mündet, und wir haben darüber gesprochen, wie er sich trotz seiner Rassismuserfahrungen als Teil des Ostens sieht – er hat sich sogar einen Plattenbau auf die Wade tätowiert!
Daneben blieb mir die Begegnung mit Benjamin Grunder aus Chemnitz im Kopf, der sich unermüdlich in der dortigen Kulturszene engagiert. Ich war auf dem Kosmos-Festival in Chemnitz, Herbert Grönemeyer und Fat Tony traten auf. Ein Jahr zuvor hatte ich für die ZEIT über die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz berichtet. Aber ein weltoffenes Festival ist eben genauso ostdeutsche Realität.
herCAREER: Was ist für dich eine gelungene Wiedervereinigung?
Valerie Schönian: Es klingt simpel, aber: Wenn wir Unterschiede nicht als etwas Trennendes, sondern als etwas Bereicherndes sehen würden, dann wäre vieles besser. Und das gilt ja nicht nur für das Ostbewusstsein, sondern für viele Perspektiven, die noch zu wenig gesehen werden. Dann kann ich auch in einem perfekt wiedervereinigten Land immer noch Ossi sein.
Das Interview führte herCAREER-Chefredakteurin Julia Hägele.
Über die Person
Valerie Schönian ist 1990 in Gardelegen, Sachsen-Anhalt, geboren und aufgewachsen in Magdeburg. Studiert hat sie in Berlin, ausgebildet wurde sie an der Deutschen Journalistenschule in München. Danach machte sie für einen Jahr das Blogprojekt „Valerie und der Priester“, ging anschließend zur ZEIT, zunächst als Redakteurin für das Leipziger Büro, dann als Autorin. Ihre Bücher „Halleluja. Wie ich versuchte die katholische Kirche zu verstehen“ (2018) und „Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet“ (2020) erschienen im Piper-Verlag. Sie lebt als freie Autorin in Berlin.
Am 17. Oktober 2024 ist Valerie Schönian zu Gast beim Authors-MeetUp auf der herCAREER Expo. Ort und Zeitpunkt finden Sie im Programm.