Margret Rasfeld ist ehemalige Lehrerin, Mitbegründerin und aktuelle Geschäftsführerin von Schule im Aufbruch. Sie gilt als scharfe Kritikerin eines normierten Bildungssystems. In ihrem Buch “Frei Day” fordert sie Freiräume für Schüler:innen, um eigene Ideen umsetzen. Im Gespräch erzählt sie, wie schüchterne Kinder aufblühen, was sie sich von Lehrer:innen wünscht und was Abiturient:innen und sogenannte Bildungsverlierer:innen gemeinsam haben.
„Mit dem selektiven Schulsystem produzieren wir systematisch Gewinner:innen und Verlierer:innen in sehr jungen Jahren.“
herCAREER: Margret, Du hast viele Jahre als Chemie- und Biologielehrerin gearbeitet. Wie oft hast Du beobachtet, dass ein Kind auf der Strecke geblieben ist, obwohl das nicht nötig gewesen wäre?
Margret Rasfeld: Als ich am Gymnasium tätig war, war das jedes Jahr der Fall. Ich habe mich als Beratungslehrerin – das ist etwas Ähnliches wie Sozialpädagogin – sehr für die Kinder eingesetzt. Aber natürlich sind jedes Jahr viele sitzen geblieben. Später, als ich an Gesamtschulen gearbeitet habe oder selbst Schulleiterin war, sind mir zwei Kinder in Erinnerung, die auf der Strecke blieben. Die haben wir trotz größter Anstrengungen nicht aus dem Drogenmilieu herausbekommen.
herCAREER: Schule soll Kinder zu mündigen Bürger:innen formen. Man liest aber auch viel von Kindern mit Kopf- und Bauchschmerzen, die Angst haben vor der nächsten Schulaufgabe oder vor dem Übertritt. Was kann Schule Deiner Beobachtung nach in Kindern kaputt machen?
Margret Rasfeld: Wenn ich von solchen psychosomatischen Beschwerden höre, werde ich wütend. Da müsste doch ein Riesenprotest losgehen, Verletzung des Grundgesetzes, Paragraph zwei, das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Oder Verletzung der Kinderrechte! Als Gesellschaft, auch als Eltern, haben wir uns schon so an unser normiertes Schulsystem gewöhnt, dass wir uns mit dem Schmerz der Kinder nicht mehr verbinden können.
herCAREER: Der Lockdown während der Corona-Pandemie hat auch nicht geholfen, oder?
Margret Rasfeld: Die Beschwerden sind in dieser Zeit rasant angestiegen und das Thema war in den Medien wieder präsenter. Wir dürfen aber nicht in die Covid-Falle tappen und sagen: Das war der Lockdown. Nein, Corona war nicht der Auslöser für diese Probleme, die Pandemie hat nur noch mehr ans Licht gebracht, was sowieso schon im Argen lag.
herCAREER: Was läuft falsch?
Margret Rasfeld: Mit dem selektiven Schulsystem produzieren wir systematisch Gewinner:innen und Verlierer:innen in sehr jungen Jahren. Die Kinder erleben sich oft schon mit der ersten Klassenarbeit, die danebengeht, als nicht gut genug, als zu blöd. Kinder werden täglich beschämt in der Schule. Sie sitzen zu lange und sind einer Dauerbewertung ausgesetzt.
herCAREER: Was macht diese Dauerbewertung?
Margret Rasfeld: Die Begeisterung am Lernen geht verloren. Die meisten Kinder freuen sich auf die Schule. Dann lernen sie, dass ihr Wert von ihren Noten abhängt. Wenn man Eltern fragt: Wie geht es deinem Kind? Dann sagen sie: Super, hat ein Einser-Zeugnis, oder vielleicht auch: Gar nicht so gut, es muss zur Nachhilfe, hat eine Drei geschrieben.
herCAREER: Hat das auch Auswirkungen auf die Menschen im Erwachsenenalter?
Margret Rasfeld: Natürlich. Es stellt sich zunehmend Fehlerangst ein. Und dieser Erfüllermodus: “Sag mir, was ich tun soll, und das mache ich dann.” Wenig Eigenverantwortung, viel Erfüllergeist und Fehlerangst: Das ist eine fatale Kopplung angesichts der Herausforderungen, die wir ökologisch und sozial bewältigen müssen. Die Persönlichkeitsbildung der Einzelnen leidet genauso wie die Innovationskraft Deutschlands.
herCAREER: 2023 haben deutsche Schüler:innen so schlecht wie noch nie in der PISA-Studie abgeschlossen. Was sagst Du denen, die meinen, wir brauchen mehr Drill, um im internationalen Vergleich mitzuhalten?
Margret Rasfeld: Das ist nicht neu, wir hatten schon 2010 den Pisa-Schock. Wir sind etwas besser geworden und jetzt wieder zurückgefallen. Dazu kommt, dass Bildungserfolg in Deutschland stark an der sozialen Herkunft liegt – beschämend für ein so reiches Land. Einstein hat gesagt, mehr vom Alten bringt nicht das Neue hervor. Das bedeutet, wir können die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht mit den Denkweisen und Methoden lösen, durch die sie entstanden sind. Natürlich ist es wichtig, dass jedes Kind am Ende der vierten Klasse Sinn entnehmend lesen kann und auch die Grundzüge von Mathematik verstanden hat. Aber die persönlichkeitsbildenden, herzbildenden, ganzheitlichen Fächer wie Kunst, Musik und Theater sind genauso wichtig.
herCAREER: Wo funktioniert es besser?
Margret Rasfeld: In Kanada erreichen alle Kinder in Muttersprache und Mathematik mindestens Kompetenzstufe 3, ohne dass vorher im Gleichschritt geprüft wird. Wir legen zu großen Wert auf Noten. Wegen der Gauß’schen Verteilungskurve müssen immer auch schlechte Noten im Gesamtergebnis einer Schulklasse sein. Das Kind, dass dann als erstes die Fünf geschrieben hat, ist schon geschädigt und hat Angst vor der nächsten Arbeit.
herCAREER: Wie gehen die Kinder und Jugendlichen mit dem Druck um?
Margret Rasfeld: Die meisten Kinder spalten ihr Ausgeliefertsein und ihren Schmerz ab, weil das eigentlich gar nicht auszuhalten ist. Die Kinder gehen dann in einen Funktionsmodus. Zum Beispiel auf die Eins hin – oder in eine “Null-Bock”-Haltung. Kinder haben keine Lobby. Erwachsene müssen über diesen Schmerz der Kinder an ihre eigenen Schmerzen kommen, dann kann sich etwas verändern. Und dazu brauchen wir nicht nur den Kopf, sondern auch die transformative Kraft der Künste.
herCAREER: Geht es den Jugendlichen denn wirklich so schlecht?
Margret Rasfeld: Schüler:innen von einem Gymnasium in Leipzig haben 70 Briefe geschrieben, wie es ihnen wirklich geht. Und die sind so erschütternd, dass die Menschen anfangen zu weinen, wenn ich daraus zitiere. Das hat dazu geführt, dass ich in Leipzig das Real-Labor “Friedliche Bildungsrevolution” gegründet habe, mit einer Künstlerin zusammen. In unserer Arbeit wollen wir auch Gefühlen Raum geben, die im Schulalltag keinen Platz haben.
herCAREER: Du plädierst für einen “Frei Day” – was hat es damit auf sich?
Margret Rasfeld: Der Frei Day ist ein neues Lernformat an Schulen, vier Stunden pro Woche, nicht zwingend an einem Freitag. Hier stehen Zukunfstthemen im Fokus, die sich an den globalen Nachhaltigkeitszielen orientieren. Die konkreten Themen kommen von den Kindern selbst. Sie eignen sich Wissen an und handeln gemeinsam – in der Schule, Stadt oder Gemeinde.
herCAREER: Welche Probleme werden durch den “Frei Day” gelöst?
Margret Rasfeld: Kinder brauchen stärkende Erfahrungen. Heute wird viel über Resilienz, also psychische Widerstandskraft, gesprochen. Aber wie wird man resilient? Erstens durch Partizipation. Bin ich beteiligt, habe ich Einfluss? Zweitens durch Selbstwirksamkeit, also einen Glauben an sich selbst. Und drittens durch den Sinn hinter meinem Tun. Der “Frei Day” vermittelt genau diese Erfahrung und ist damit ein Lernformat zur Stärkung der Resilienz.
herCAREER: Kannst Du ein Beispiel nennen?
Margret Rasfeld: Ich habe zutiefst schüchterne Kinder gesehen, die sich trauten, bei der Bürgermeisterin anzurufen, und einen Zebrastreifen vor der Eisdiele forderten. Oder andere, die durchsetzten, dass ein Skate-Park auch für Kinder, nicht nur für Jugendliche, zugänglich war.
herCAREER: Geht die Idee des “Frei Day” davon aus, dass Schüler:innen intrinsisch interessiert und engagiert sind? Was, wenn sie die Zeit nicht konstruktiv nutzen?
Margret Rasfeld: Wenn die Kinder in die Schule kommen und noch nicht daran gewöhnt sind, dass ihnen ständig jemand sagt, was sie tun sollen, wenn sie noch keine Angst vor schlechten Noten haben, dann wollen sie auch kreativ sein.
herCAREER: Was würde den Pädagog:innen helfen, sich auf so etwas wie den Frei Day einzulassen?
Margret Rasfeld: Es würde helfen, wenn es von oben gewollt ist. Ich nehme mal Bayern: Bildung für nachhaltige Entwicklung ist Pflicht in Bayern. Das Kultusministerium beruft sich hier auf Umweltrichtlinien aus dem Jahr 2007. Dort steht, dass Kinder und Jugendliche Gestaltungskompetenz erwerben sollen, fächerübergreifend, mit Kopf, Herz und Hand. Da stehen so tolle Sachen drin, aber das wird nie abgefragt. Abgefragt wird Deutsch, Englisch, Mathe.
herCAREER: Es müsste nur von oben entschieden werden?
Margret Rasfeld: Nein, es bräuchte auch einen Haltungswandel, denn wir haben sehr viele Muster im Kopf wie “Kinder, die nicht benotet werden, lernen nicht”. Oft unbewusst, manchmal auch bewusst. Wir kennen gar nichts anderes. Wir können uns gar nicht vorstellen, dass Kinder auch selbstorganisiert lernen können. Obwohl das in Montessori-Schulen seit 150 Jahren wunderbar klappt.
herCAREER: Wie ist es mit den Waldorfschulen?
Margret Rasfeld: Ich finde gut, dass die Waldorfschulen den ganzen Menschen sehen. Waldorfschulen sind in der richtigen Haltung, könnten jedoch Kindern mehr Eigenständigkeit zutrauen. Einige gehen schon diesen Weg.
herCAREER: Der Name Frei Day nimmt Bezug zur Fridays-for-Future-Bewegung. Was hat Dich daran beeindruckt?
Margret Rasfeld: Weil ich mit meinen Schüler:innen jahrzehntelang Projekte gemacht habe, weiß ich eigentlich, zu was Kinder und Jugendliche in der Lage sind. Es hat mich trotzdem beeindruckt, wie sich die Bewegung organisiert hat. Ich war auf dem großen Fridays-for-Future-Kongress noch vor Covid. Da waren 1400 Jugendliche aus allen Bundesländern. Da war eine innere Ruhe, eine Disziplin, eine Ernsthaftigkeit. Die haben ein Wahnsinnsprogramm zusammengestellt, mit ganz tollen Referenten.
Daran sieht man, welche Kraft in den jungen Leuten liegt, und dass sie etwas bewegen können und wollen. Es ist schon ein Drama, dass sie die Schule verlassen müssen, um sich für etwas wie Klimaschutz einzusetzen.
herCAREER: Selbst wenn so etwas wie der “Frei Day” nie flächendeckend eingeführt werden sollte: Was ist das dringlichste Problem des Bildungssystems?
Margret Rasfeld: Das dringendste Problem ist, dass wir 15 Prozent Kinder haben, die nach zehn Jahren Schule auf äußerst niedrigem Niveau sind, also eigentlich nicht ausbildungsfähig. Das zweite große Problem ist, dass wir Abiturient:innen entlassen, die sich als nicht gut genug empfinden, die nicht wissen, was sie eigentlich wollen und wofür ihr Herz schlägt. Und die sich noch nie engagiert haben.
herCAREER: Diese 15 Prozent, die keine ordentliche Ausbildung haben, und die Abiturient:innen, die nicht so recht wissen, wohin mit sich: Was haben sie gemeinsam und worin unterscheiden sie sich?
Margret Rasfeld: Der größte Unterschied ist, dass die Abiturient:innen einen Schein haben, der sie zu vielem berechtigt. Und die sogenannten Bildungsverlierer:innen haben ihn nicht. Sie haben oft einen sehr geringen Selbstwert. Es wirkt Wunder, wenn sie an einen Menschen geraten, der an sie glaubt. Man kann das nicht pauschalisieren, aber meiner Beobachtung nach haben die beiden Gruppen gemeinsam, dass sie ihre Stärken nicht kennen und sich schwertun, ihr Potential zu entfalten. Das ist schade. Denn jeder Mensch hat schöpferische Kräfte.
Das Interview führte herCAREER-Chefredakteurin Julia Hägele.
Über die Person
Margret Rasfeld ist Expertin für Zukunftsbildung, Mutmacherin, kreative Vernetzerin von Ideen und Menschen, Autorin, Lobbyistin für Kinder. Sie ist erfahrene Schulpraktikerin und war 39 Jahre im Schuldienst, davon 25 Jahre in Leitungsfunktion. Bis Sommer 2016 leitete sie die Evangelische Schule Berlin Zentrum, deren Innovationskonzept als Role Model für den Paradigmenwechsel weltweit Beachtung findet.
Margret Rasfeld tritt mit internationaler Ausstrahlung für die gesellschaftliche Transformation ein, mit Schwerpunkt in der Bildungskultur. Eckwerte sind: Bildung für nachhaltige Entwicklung, Global Citizenship, Potenzialentfaltung, wertschätzende Beziehungskultur, Partizipation, Verantwortung, Sinn. Sie war eine der sechs Kernexpert:innen im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin „Wie wir lernen wollen“ und agiert als Netzwerkerin interdisziplinär in verschiedenen Innovationsbereichen. Als Beraterin und international gefragte Referentin erreicht sie ca. 20.000 Menschen im Jahr. Engagement und Pioniergeist durchziehen ihr Leben. So hat sie als Vordenkerin zahlreiche Initiativen und Vereine in die Welt gebracht. Zurzeit ist sie Geschäftsführerin der Schule im Aufbruch gGmbH, die von der UNESCO mit dem Nationalen Preis BNE ausgezeichnet wurde. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. diese: Bundesgesundheitspreis 1992, Vision Award 2012, Querdenker Award 2013, WeQ Award 2019, Aufbruch Award SZ/Google 2020, Emotion Award 2023.
Margret Rasfeld ist zu Gast auf der herCAREER Expo am 17. und 18. Oktober 2024.