Nathalie Stüben war beides gleichzeitig: eine erfolgreiche Journalistin und alkoholabhängig. In ihrem Buch “Ohne Alkohol – die beste Entscheidung meines Lebens” beschreibt sie ihre Reise aus der Sucht in ein Leben, das sie liebt. Im Interview erzählt sie, warum die Anonymen Alkoholiker kein Ort für sie waren, ab wann man wahrscheinlich ein Alkoholproblem hat und warum Frauen einen klaren Kopf für die Gleichstellung brauchen.
„Ich habe nie jeden Tag getrunken, ich habe nie gezittert. Meine Sucht zeigte sich durch regelmäßige Komplett-Abstürze.“
herCAREER: Du lebst in Bayern. Hast du derzeit manchmal Lust auf ein Bier?
Nathalie Stüben: Nein. Mein Getränk war eher Wein, aber selbst auf Wein habe ich seit Jahren keine Lust mehr. Mehr noch: Wenn ich ein Glas Wein sehe, bin ich froh, dass ich es nicht mehr trinken muss.
herCAREER: Als stereotypen Alkoholiker stellen sich viele einen ungepflegten Mann vor, mit zitternden Händen und einer Flasche Korn im Mantel, aber keine junge Frau, die mitten im Leben steht. Wie sah dein Leben aus, als du trankst?
Nathalie Stüben: Ich habe nie jeden Tag getrunken, ich habe nie gezittert. Meine Sucht zeigte sich durch regelmäßige Komplett-Abstürze. Wenn ich angefangen habe zu trinken, hat sich ein Schalter in meinem Kopf umgelegt und ich habe kein Ende gefunden.
herCAREER: Aber dein Leben hattest du zumindest oberflächlich im Griff?
Nathalie Stüben: In meinen letzten Suchtjahren saß ich als Journalistin beruflich fest im Sattel. Ich habe Lob bekommen für meine Radiostücke, für meine Bereitschaft, Doppelschichten zu übernehmen. Ich habe mir meine Abstürze so gelegt, dass sie meine Arbeitsperformance nicht allzu sehr beeinträchtigten. Heute denke ich, ohne Alkohol wäre da noch viel mehr gegangen. Mal ganz abgesehen von den traurigen Szenen, die sich in meinem Privatleben abgespielt haben. Ich habe zum Beispiel irgendwann Zeitungspapier zwischen die Flaschen geklemmt, wenn ich Leergut weggebracht habe, weil schon der eine oder andere Nachbar komisch guckte, wenn es wieder klirrte.
herCAREER: Ab wann ist man eigentlich alkoholabhängig und wann hat man “nur” eine Phase, in der man zu viel trinkt?
Nathalie Stüben: Das lässt sich nicht pauschal beantworten, denn eine Suchtentwicklung muss nicht linear verlaufen. Es kann Phasen geben, in denen du schon die Kriterien für eine Abhängigkeit erfüllst – und dann geht es mal wieder ein paar Jahre gut. Wenn alkoholabhängige Frauen schwanger werden, ist das zum Beispiel oft der Fall. Genauso können Menschen während eines Studiums alkoholabhängig sein und danach wieder die Kurve kriegen.
Wichtig zu verstehen ist, dass Alkoholprobleme sich entwickeln und dass es sehr viele Graustufen gibt zwischen “Ich trinke ein Glas Sekt zu Silvester” und “Alkohol ruiniert mein Leben”. Abhängigkeit schleicht sich ein und oft beginnt sie mit Genuss- oder Partytrinken. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Dafür möchte ich mit meiner Arbeit sensibilisieren.
herCAREER: Gibt es denn keine konkrete Grenze?
Nathalie Stüben: Nein, das ist das Gemeine. Es schleicht sich ein. Kaum jemand kann sagen: An dem Tag zu der Uhrzeit ist es zum Problem geworden. Es gibt aber Alarmzeichen, anhand derer du merken kannst, dass du dich im kritischen Bereich befindest. Zum Beispiel, wenn du Alkohol als Droge einsetzt, also um zu verändern, wie du denkst und fühlst. Wenn du also trinkst, um einen anderen Zustand zu erreichen. Um zu entspannen, um lockerer zu sein, um dich nicht mehr so traurig zu fühlen. Das ist dann schon kein Genusskonsum mehr, sondern Drogenkonsum. Das heißt zwar nicht, dass ich dann schon physisch abhängig bin, aber da wird es schon problematisch.
herCAREER: Welches Anzeichen für Alkoholabhängigkeit hast du persönlich beobachtet?
Nathalie Stüben: Ich persönlich denke, sobald sich jemand die Frage stellt: ’Ist mein Alkoholkonsum noch im grünen Bereich?’, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er nicht mehr im grünen Bereich ist. Kein Mensch, der unproblematisch konsumiert, fragt sich: Sollte ich heute Abend trinken?
herCAREER: Wann ist dir selbst klar geworden, dass du ein Problem hast?
Nathalie Stüben: Das ist mir klar geworden, als ich mir immer wieder Trinkregeln aufgestellt habe, die ich auf Dauer nicht einhalten konnte. Zum Beispiel: “Heute trinke ich nur eine halbe Flasche.” Oder: “Ich trinke nicht mehr alleine.”
herCAREER: Wie ging es dann weiter?
Nathalie Stüben: Ich habe beschlossen, nicht mehr zu trinken, habe mir Podcasts angehört und alles gelesen, was ich zu dem Thema finden konnte. Als erstes war das Daniel Schreibers Buch “Nüchtern”, das mich sehr angesprochen hat. In diesem Buch beschreibt er, wie er seinen Weg in die Nüchternheit durch die Anonymen Alkoholiker gefunden hat. Nach ungefähr zwei Wochen Abstinenz bin ich da dann auch mal hingegangen.
herCAREER: Hast du dich bei den Anonymen Alkoholikern zuhause gefühlt?
Nathalie Stüben: Nein. Aber willkommen. Ich war da und sagte den obligatorischen Satz: “Mein Name ist Nathalie und ich bin Alkoholikerin.” Danach brach ich in Tränen aus. Ich wollte noch so viel mehr sagen, wie sehr ich mich schämte, mit wie vielen Männern ich Sex hatte, wie ich innerlich dabei bin zu sterben, aber da überrollte mich schon das nächste Schluchzen. Der ganze Schmerz kam raus. Alle Gesichter schauten mich mit Verständnis an. Das tat gut. Die AA waren aber trotzdem nicht mein Ort. Mir gefiel das Setting nicht so gut und auch mit der Sprache der AA habe ich meine Probleme. Ich bin dann einen anderen Weg gegangen.
herCAREER: Holly Whitaker, die Autorin von “Quit like a Woman”, sagt, den Anonymen Alkoholikern liege ein patriarchales System zugrunde.
Nathalie Stüben: Ich finde Hollys Sicht interessant, auch wenn ich sie nicht ganz teile. Die AA sagen, man müsse lernen, dass man selbst nicht Gott ist, sondern kapitulieren und einer höheren Macht vertrauen. Die zwei Gründer der AA waren zwei privilegierte weiße Männer, einer Arzt, der andere Broker. Holly sagt, für solche Männer ist es Medizin, wenn sie ihr Ego brechen müssen. Frauen dagegen kennen in der Regel jede einzelne ihrer Schwachstellen.
herCAREER: War es das, was dich selbst an den Anonymen Alkoholikern gestört hat?
Nathalie Stüben: Nicht primär. Mich hat vielmehr diese Prämisse gestört, auf der das ganze Konzept aufbaut, nämlich dieser Gedanke: Ich bin Alkoholiker, weil ich nicht “normal” trinken kann. Da gehe ich nicht mit, denn Alkohol ist immer giftig, für jeden Körper, das ist mittlerweile erwiesen. Alkohol wurde bereits 1988 von der Internationalen Agentur für Krebsforschung als Karzinogen erster Klasse eingestuft, das heißt, es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Alkohol und Krebs. Darüber hinaus wirkt Alkohol auf jedes Hirn, verändert es, baut es um, macht es krank. Es gibt also nicht die beiden Gruppen „Alkoholiker“ und „Normale“. Das widerspricht dem modernen wissenschaftlichen Forschungsstand und es widerspricht auch meinem Gesundheitsverständnis. Ich muss nicht in der Lage sein, in Maßen eine Droge zu konsumieren, um gesund zu sein.
herCAREER: In unserer Kultur ist Alkohol auch Lebensgefühl. Zum Sonnenuntergang in Italien gehört ein Aperol Spritz, zum Rind ein guter Rotwein.
Nathalie Stüben: Das mag sein, mich interessiert er trotzdem nicht mehr. Ich würde meinen Körper heute nicht mehr diesem Stress aussetzen wollen. Dafür ist mir meine Gesundheit – physisch wie psychisch – viel zu wichtig.
herCAREER: Es findet ein zarter Wandel statt, es ist gesellschaftlich akzeptierter, auch mal nicht zu trinken – auch ohne religiöse oder medizinische Gründe. In der “Sex and the City”-Neuauflage “And Just Like That” lässt sich Miranda Holly Whitakers Buch “Quit like a Woman” liefern. Warum, glaubst du, formiert sich hier ein neues Bewusstsein?
Nathalie Stüben: Ich kann mir vorstellen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse langsam im kollektiven Bewusstsein ankommen. Das dauert beim Alkohol erschreckend lange im Vergleich zu Zigaretten. Hinzu kommt, dass Frauen wie Holly Whitaker, Laura McKowen oder Annie Grace in den USA angefangen haben, eine moderne Sprache dafür zu finden. In Deutschland habe ich damit angefangen und mittlerweile hat sich auch hier eine tolle, warmherzige und aktive Sober-Szene entwickelt. Das holt das Thema aus der Schmuddelecke und platziert es dort, wo es hingehört, nämlich in der Mitte der Gesellschaft. Wenn wir uns zeigen und darüber sprechen, wie normal es ist, ein Problem mit Alkohol zu bekommen und wie viel besser ein Leben ohne Alkohol sein kann, dann kann auch gesellschaftlicher Wandel entstehen.
herCAREER: Wie bist du mit dem sozialen Druck umgegangen, als du beschlossen hast, keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken?
Nathalie Stüben: Als ich noch nicht offen damit umgegangen bin, habe oft gesagt, ich muss noch arbeiten, noch fahren, morgen früh raus, sowas. Aber ich habe mich lange auch bewusst von klassischen Trinksituationen ferngehalten, um mich davor zu schützen. Das war Teil meines Werkzeugkoffers. Mittlerweile sage ich einfach: Danke, ich nehme ein Sprudelwasser.
herCAREER: Ist es nicht eine große Ungerechtigkeit, sich ein Stück Leben nehmen zu lassen, wenn man sich diesen Situationen, in denen getrunken wird, entziehen muss?
Nathalie Stüben: Für mich war es nicht so schlimm, es war ja auch temporär und ich habe meine Zeit eh schnell viel lieber draußen, beim Sport oder mit Büchern verbracht. Das ist heute auch noch so. Partys reizen mich nicht mehr so und ich bin auch sehr selektiv geworden, was die Leute angeht, mit denen ich Zeit verbringen möchte.
herCAREER: Wie hat sich dein Leben zum Positiven verändert, seit du nicht mehr trinkst?
Nathalie Stüben: Ich habe sehr schnell wieder Kondition und Lust auf Bewegung bekommen. Ich habe bemerkt, wie präzise ich wieder denken kann, wie viel Spaß am Lernen ich habe. Längerfristig hat es sich dann angefühlt, wie wirklich erwachsen zu werden. Ich habe mein Leben in die Hand genommen und Verantwortung dafür übernommen. Ich habe langsam den Unterschied begriffen zwischen dem, von dem ich dachte, dass es mir wichtig sein sollte, und dem, was mir wirklich wichtig ist. Das kann man durch die Abstinenz schön lernen.
herCAREER: Wie sieht dein Leben aus?
Nathalie Stüben: Ich habe mir ein Leben gebaut, das ich liebe. Ich stehe auf und freue mich auf den Tag. Das heißt nicht, dass ich auf einer rosa Wolke mit Glitzerauspuff durch die Gegend fliege und dauerhappy bin. Gerade im Unternehmensaufbau mit zwei kleinen Kindern war das zwischendurch schon hart. Ich weiß aber, wie ich mich schütze, und habe damals beispielsweise ein Burnout-Präventions-Coaching gemacht.
herCAREER: Du hast dir ein Business damit aufgebaut, schreibst Bücher, vertreibst Online-Programme, mit denen Menschen lernen können, mit dem Trinken aufzuhören – wann ist dir klar geworden, dass du anderen helfen kannst?
Nathalie Stüben: Ein paar Wochen, nachdem ich meinen Podcast und mein 30-Tage-Programm gestartet habe. Als die ersten Menschen mir schrieben: Ich habe schon so oft versucht aufzuhören, und jetzt klappt es plötzlich und fühlt sich unfassbar gut an.
herCAREER: Wie hat dein heutiger Mann darauf reagiert, als du sagtest, dass du alkoholabhängig warst?
Nathalie Stüben: Ich hatte große Sorge, dass er aufsteht und geht. Er meinte aber nur: O.K. Heute sagt er, du hast dein Problem erkannt und etwas dagegen gemacht, ist doch wunderbar.
herCAREER: Stimmt es eigentlich, dass Frauen mehr trinken, je emanzipierter und gebildeter sie sind?
Nathalie Stüben: Es stimmt, dass in gebildeten Schichten der riskante Konsum unter Frauen am stärksten steigt. Was die Emanzipation betrifft, sehe ich es so: Wir müssen uns klar machen, dass Alkohol kein hippes Accessoire ist, das uns hilft, zu bonden. Alkoholkonsum führt eher dazu, dass wir unhaltbare Zustände im wahrsten Sinn des Wortes “runterschlucken”. Er lässt uns verstummen, weil er Energie zieht, unser Wesen verändert und depressiv macht. Um in Sachen Gleichstellung weiterzukommen, brauchen wir aber genau das: viel Energie und einen klaren Kopf.
Das Interview führte herCAREER-Chefredakteurin Julia Hägele.
Über die Person
Die 1985 geborene Journalistin Nathalie Stüben war alkoholabhängig. Mittlerweile lebt sie seit rund sieben Jahren nüchtern und gilt als Expertin rund um die Themen Alkoholsucht und Abstinenz. Die zweifache Mutter und SPIEGEL-Beststeller-Autorin betreibt unter dem Namen „Ohne Alkohol mit Nathalie“ diverse Social-Media-Kanäle und zwei Onlineprogramme, mit denen sie aufklärt und Menschen mit Alkoholproblem dabei unterstützt, dauerhaft mit dem Trinken aufzuhören. Natalie Stüben sagt: „Ich habe es lange für unmöglich gehalten, ohne Alkohol zu leben. Heute bin dankbar, nicht mehr trinken zu müssen. Weil ich etwas Entscheidendes begriffen habe: Ein Leben ohne Alkohol ist keine Qual, es bedeutet Freiheit.“