Schluss mit Vorurteilen in der Arbeitswelt!
In ihrem Buch „Von Quotenfrauen und alten weißen Männern“ greift Annahita Esmailzadeh hartnäckige Vorurteile in der Arbeitswelt auf. Auf der herCAREER Expo* sprach sie mit Dr. Irène Kilubi darüber, wie Vorurteile entstehen, warum wir alle nicht vor ihnen gefeit sind und weshalb sie in Zeiten des sich zuspitzenden Fachkräftemangels für Unternehmen so gefährlich werden können.
Thema
Wirtschaft, Arbeit & New Work | Gesellschaft
Angaben zur Referent:innen
Annahita Esmailzadeh ist Führungskraft bei Microsoft. Zuvor verantwortete sie bei SAP als Head of Innovation den Innovationsbereich für das SAP Labs in München. Die mehrfach ausgezeichnete Wirtschaftsinformatikerin und Bestsellerautorin gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Business-Influencerinnen und Keynote-Speakerinnen im DACH-Raum. Ihre Reichweite in den Medien und auf sozialen Netzwerken setzt sie für mehr Diversität und Inklusion sowie moderne Kultur- und Führungsansätze in der Arbeitswelt ein. Die „Diversity-Kämpferin“ (brand eins Magazin) und „digitale Pionierin“ (t3n Magazin) wurde vom Focus Magazin als eine der 100 Frauen des Jahres 2022 ausgezeichnet. Das Wirtschaftsmagazins Business Insider kürte sie als eine der Top 25 Zukunftsmacherinnen, die die deutsche Wirtschaft verändern und prägen. Sie erhielt für ihr Engagement zudem die Europamedaille sowie den German Diversity Award. Geboren wurde Annahita Esmailzadeh in München, wo sie als Tochter iranischer Einwanderer in einem sozialen Brennpunkt aufwuchs.
Dr. Irène Kilubi ist promovierte Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin und hat für namhafte Unternehmen wie BMW, Deloitte, Siemens und Amazon gearbeitet. Nach vielen beruflichen Stationen folgt sie jetzt ihrer persönlichen Leidenschaft und widmet sich den Themen JOINT GENERATIONS, Community Building und Corporate Influencer Strategie. Darüber hinaus ist sie als Expert Advisor für den European Innovation Council Accelerator der Europäischen Kommission tätig. Dr. Irène Kilubi ist Universitätsdozentin für Digitales Marketing und Entrepreneurship, Beirätin (z.B. für Miss Germany oder impulse ai) und eine gefragte Keynote Speakerin und Moderatorin auf Konferenzen und Veranstaltungen.
Im September 2023 wurde Dr. Irène Kilubi zu den Top 25 Zukunftsmacher*innen Deutschlands vom Business Insider und zum Xing Top Mind 2023 in der Kategorie „Generationen“ ausgezeichnet. Ferner erhielt sie im Juli 2023 den Audience Award beim Impact of Diversity Award und wurde 2023 zu den Top 100 Women für Diversity von Beyond Gender Agenda und 2023 von w&v zu den Top 10 Expert*innen für Brand Communities gewählt. Dr. Irène Kilubi wurde 2023 zum „Xing Top Mind“ in der Kategorie Generationen sowie zum „Xing Top Mind 2022“ in der Kategorie Diversity und 2020 in der Kategorie Personal Branding und Marketing gekürt und ist Mitautorin des im Jahr 2021 erschienenen zweifachen Bestsellers (Spiegel und manager magazin) „Zukunftsrepublik“.
*Der Beitrag wurde im Rahmen der herCAREER Expo 2023 aufgezeichnet und als Podcast aufbereitet.
00: 00:00 Annahita Esmailzadeh: Dieser Leistungsmythos, dass es reicht, sich allein nur ganz, ganz viel anzustrengen, das entspricht nicht der Realität in Deutschland. Und das ist etwas, damit muss man sich auseinandersetzen. Und da müssen auch Menschen ihre eigenen gesellschaftlichen Privilegien hinterfragen.
00: 00:16 *Musik*
00: 00:31 bHerzlich willkommen beim HerCareer Podcast. Hier kommen Menschen zu Wort, die sich für eine vielfältige und gerechte Arbeitswelt einsetzen. Von der HerCareer Expo Live und aus der HerCareer Community. In Ihrem Buch „Von Quotenfrauen und alten weißen Männern“ greift Annahita Esmailzadeh hartnäckige Vorurteile in der Arbeitswelt auf. Auf der HerCareer Expo sprach sie mit Dr. Irène Kilubi darüber, wie Vorurteile entstehen, warum wir alle nicht vor ihnen gefeit sind, und weshalb sie in Zeiten des sich zuspitzenden Fachkräftemangels für Unternehmen so gefährlich werden können.
00: 01:22 Irène Kilubi: Einen wunderschönen guten Morgen. Die junge Dame, die hier rechts neben mir sitzt, ist Influencerin, führungskraft bei Microsoft. Jung. Weiblich. Gutaussehend. Technikaffin, aus sozial schwachen Verhältnissen. Migrationshintergrund. Hat sich mit Fleiß, Intellekt und Charme nach oben gearbeitet. Und Ihre Devise lautet „Be a voice, not an echo“. Das finde ich wunderbar. Ach, liebe Annahita, schön, dass du hier bist, das hat auch einen ganz besonderen Grund. Weil du veränderst oder krempelst gerade die Arbeitswelt um. Dein Buch „Von Quotenfrauen und alten weißen Männern. Schluss mit Vorurteilen in der Arbeitswelt“ ist direkt auf Platz drei der Spiegel Bestsellerliste gesprungen, sozusagen und seit Oktober auch noch auf der Manager Magazin Liste. Wie geht es dir dabei?
00: 02:16 Annahita Esmailzadeh: Also mich freut natürlich unfassbar, dass der Andrang so hoch ist, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Und ich glaube, das Buch ist dahingehend so spannend, dass es zum einen für Betroffene, also für Menschen, die mit Vorurteilen konfrontiert werden und merken, dass Vorurteile dafür sorgen, dass sie berufliche Hürden erleben, sehr ansprechend ist und auch ihnen eine Stimme gibt. Aber auch für Menschen, die selber in der privilegierten Situation sind, nicht so viele Vorurteile erleben zu müssen, aber eher in der Situation sind, Vorurteile zu haben und vielleicht deswegen ungewollt Menschen diskriminieren, nicht einstellen. Und deswegen freut es mich sehr, dass Männer und Frauen, jung und alt, dieses Buch lesen und so fleißig darüber diskutieren.
00: 03:08 Irène Kilubi: Und für wen speziell ist das Buch? Aber ich meine, hier sind wir, glaube ich, in unserer Bubble. Ich glaube, niemand hier würde sagen: Nee, weil das ist nicht so mein Ding. Ist nicht so cool, oder?
00: 03:20 Annahita Esmailzadeh: Ja, das Buch ist natürlich für alle, weil wir alle sind nicht vor Vorurteilen gefeit, sondern ich würde sagen, wenn man dieses Buch liest, dann findet man sich selber in mindestens einer von diesen Schubladen wieder. Das Buch ist aber auch für diejenigen oder vor allem für diejenigen, die sagen, dass sie es gar nicht brauchen. Also wenn ich Keynotes halte, kommen immer ein, zwei Personen, meistens sind es leider Herren, zu mir, die sagen: Ja, Frau Esmailzadeh, erst mal ganz spannend, was sie erzählt haben. Aber ganz ehrlich: Ich habe ja keine Vorurteile. Und sie haben jetzt zum Beispiel von Rassismus gesprochen und ich muss sagen, mein Nachbar ist Türke und der sagt von sich selber auch nicht, dass er irgendwie diskriminiert ist. Deswegen: Ich finde, das ist schon ein bisschen veraltet, was Sie da von sich geben. Und in der Regel kommen solche Aussagen von Menschen, die selber so privilegiert sind, dass sie gar nicht wissen, wie es ist, aufgrund von Eigenschaften wie der Hautfarbe, der ethnischen Herkunft, sexuellen Orientierung des Geschlechts diskriminiert zu werden, und deswegen dieses ganze Thema komplett pauschal wegdiskutieren wollen und komplett kleinreden. Und deswegen sage ich immer: Wenn der erste Impuls der ist, dass man eine Auseinandersetzung mit diesem Buch, mit diesem Thema gar nicht braucht, dann sollte das der allerstärkste Kaufimpuls sein.
00: 04:34 Irène Kilubi: Als du mir damals erzählt hast, dass du ein Buch schreibst, war meine erste Frage: Worum geht es denn? Dann hast du gesagt, es geht um „unconscious bias“. Und darauf gehst du auch zu Beginn eines Buches ein. Auf viele verschiedene Arten von unbewussten Vorurteilen, welchen bis heute jede oder jeder von uns kennen.
00: 04:51 Annahita Esmailzadeh: Es gibt über 180 erforschte Arten von kognitiven Verzerrungen und unconscious bias zeigt sich zum Beispiel ganz konkret darin, wenn ich Menschen bitte, ihre Augen zu schließen und sich eine Führungskraft vorzustellen. Und die allermeisten haben dann einen Mann vor Augen, einen älteren Mann, wahrscheinlich sogar mit einem bestimmten Dresscode, wahrscheinlich eher sogar im Anzug oder zumindest mit einem Hemd. Und die allerwenigsten Menschen hätten unter einer Führungskraft ein Bild im Kopf, das aussieht wie du und ich oder wie ihr alle. Und das beschreibt aus meiner Sicht unconscious bias sehr, sehr gut. Jetzt ist es aber so, dass unconscious bias sehr viel weiter geht. Er sorgt dafür, dass wir mit Menschen befreundet sein wollen und andere unsympathisch finden. Und es sorgt dafür, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe von Polizisten und Polizistinnen öfter aufgehalten werden als Menschen mit weißer Hautfarbe. Sorgt dafür, dass dicke Menschen Diskriminierung erfahren von dem medizinischen Personal. Also unconscious bias ist etwas so Breites, was uns in unserem täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen gar nicht so bewusst ist. Und ich habe mir jetzt im Kontext von dem Buch einige sehr spannende und auch sehr gefährliche Arten von unconscious bias im Kontext der Arbeitswelt herausgegriffen, die vor allem in unserem beruflichen Alltag sehr weitreichende Konsequenzen haben. Und ein sehr spannender Bias, den wir alle kennen sollten, ist der so genannte „affinity bias“, auch bekannt unter dem Motto „Gleich und Gleich gesellt sich gern“. Und ich finde, es zeigt sich immer sehr, sehr gut an Bildern wie zum Beispiel der Münchner Sicherheitskonferenz, wo ganz viele Herren gleichen Alters mit einem ähnlichen sozialen Background an einer langen Tafel sitzen und Dinge diskutieren. Und das Allerschlimmste ist, dass wir Frauen ja keinen einzigen Platz dort haben an diesen Tischen und deswegen auch gar nicht die Möglichkeit haben, diese wichtigen gesellschaftlichen Themen mitzugestalten. Und genau dasselbe Bild zeigt sich in der Wirtschaft. Je weiter man nach oben blickt, desto homogener, männlicher, akademischer, sozial privilegierter wird das Bild, das man oben vorfindet. Und es zeigt sich damit ganz konkret zum Beispiel in Form von Bewerbungsprozessen, wo Führungskräfte, die natürlich einen Hang dazu haben, eher andere Menschen einzustellen, die ihnen selbst ähneln und die ihnen nicht nur geschlechtsbezogen ähneln – Prinzip der Homosozialität – sondern auch in Hinblick auf den Habitus, also zum Beispiel eine ähnliche Art und Weise haben zu sprechen, ähnliche Hobbys haben. Und das sorgt nicht nur dafür, dass es Frauen immer schwerer haben, nach oben zu kommen, weil bis vor wenigen Jahren hatten wir mehr Thomasse in deutschen Aufsichtsräten als Frauen, sondern auch, dass Menschen, die zum Beispiel aus sozial nicht privilegierten Hintergründen kommen und deswegen diesen Code nicht kennen, der an der Spitze gilt und sich zum Beispiel in Smalltalk-Situationen viel, viel schwerer tun. Also ich persönlich wusste zum Beispiel bis vor wenigen Jahren nicht mal, was ein Handicap ist im Kontext von Golfen und ich war lange in der Beratungszeit bei der SAP hier unterwegs. Sehr privilegiertes Umfeld. Und ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass ich dann selber immer auf irgendwelchen Abendveranstaltungen oder so Kundenveranstaltungen ganz locker am Tisch saß und mir dachte: Über was unterhalten die sich da eigentlich gerade? Also ich hatte überhaupt nichts zu sagen, weil ich mich so ausgeschlossen gefühlt habe, weil ich mir dachte: Okay, du gehörst eigentlich gar nicht hin. Und das spüren Menschen natürlich. Und in dem Zuge finden sie dich komisch und sehen dich dann eher nicht als eine Person. In der sie sich wiederfinden können, mit der sie sich identifizieren können und die sie hochziehen wollen. Und deswegen: affinity bias ist ein sehr, sehr wichtiger Bias, mit dem man sich aus meiner Sicht, wenn man Menschen einstellt, wenn man in der Situation ist, Menschen befördern zu können, Gehaltserhöhungen geben zu können, dringend auseinandersetzen sollte.
00: 09:03 Irène Kilubi: Gibt es denn noch weitere Bias neben dem affinity bias? du sprichst ja auch von den Begriffen Horn- und Halo-Effekt. Magst du da mal noch mal ein bisschen drauf eingehen?
00: 09:12 Annahita Esmailzadeh: Der Halo-Effekt ist der so genannte Heiligenschein-Effekt. Und in dem Fall reicht ein einziges Merkmal, das wir in unserem Gegenüber besonders positiv finden, dafür aus, dass wir einen ganzheitlichen, positiven Gesamteindruck einer Person bekommen und diese Person in dem Zuge nicht nur sympathischer finden, sondern auch bevorteilen. Und dafür reicht es spannenderweise sogar aus, eine Brille zu tragen, um als intellektueller und intelligenter wahrgenommen zu werden. Ich sehe schon, dass die Brillenträgerinnen sehr happy nicken. Spannenderweise reicht dafür aber der Vorname auch schon aus. Also Kinder, die zum Beispiel Alexander oder Sophie heißen, bekommen von Lehrkräften bessere Noten und werden auch seltener mit Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung gebracht als Kinder, die zum Beispiel Kevin oder Chantal heißen. Und das gänzlich unabhängig von dem tatsächlichen Verhalten dieser Kinder. Also eigentlich total irre. Und ich selber merke den Halo-Effekt immer dann, wenn ich sehr business-like unterwegs bin und irgendwo am Zug sitze oder im Flieger sitze oder im Restaurant und dann auf einmal total aufmerksam behandelt werde. Und wenn ich eine Jeansjacke anhabe oder gar einen Hoodie, dann werde ich oft sehr lange im Restaurant übersehen und irgendwie so gar nicht wahrgenommen. Und der Horn-Effekt ist genau das Gegenteil. In dem Kontext reicht ein einziges Merkmal, das wir an unseren Gegenüber irgendwie komisch finden, dafür aus, dass wir eine Person benachteiligen. Der Horn-Effekt zeigt sich im Kontext der Arbeitswelt zum Beispiel ganz konkret bei introvertierten Menschen, deren zurückhaltende Art sehr häufig fälschlicherweise mit fehlendem Engagement gleichgesetzt wird und die in dem Zuge nachgewiesenermaßen schlechtere Leistungsbewertungen bekommen und auch seltener für Führungspositionen vorgesehen werden. Oder für Beförderungen als Menschen, die total outgoing und extrovertiert sind, auch wenn sie tatsächlich vielleicht genauso viel oder sogar noch mehr leisten.
00: 11:13 Irène Kilubi: Traurig, aber wahr. Genau darum geht es auch in deinem Buch. Du hast ja eingangs auch gesagt, es gibt eine Reihe von unconscious bias, über 400, aber du hast die 14 aus deiner Sicht wichtigsten aufgegriffen. Und zwar kommt niemand zu kurz. Ja, die Dicken, die Dünnen, die Schönen, die Rabenmütter, die Quotenfrauen. Was war für dich das bedeutendste Kapitel bzw. Wo du am meisten darüber reflektiert hast?
00: 11:42 Annahita Esmailzadeh: Also ich glaube das Kapitel, das mich am allermeisten zum Nachdenken gebracht hat, war das Kapitel „Die Dicken“. Weil mit sehr vielen Schubladen konnte ich mich selbst identifizieren. Also zum Beispiel bei dem Kapitel „Die Gebärverdächtigen“ oder bei dem Kapitel „Die Quotenfrauen“. Oder bei dem Kapitel „Die Arbeiterkinder“. Also die Kapitel sind immer auf eine Weise beschrieben, dass sie das Vorurteil beschreiben und auf den Punkt bringen und. Bei dem Kapitel „Die Dicken“ habe ich eine sehr gute Freundin von mir, Isabel Gabor, zu Wort kommen lassen, die mehrgewichtig ist, also die mehr Gewicht hat als die gesellschaftliche Norm, das gesellschaftliche Ideal es vorsieht und die sehr ungefiltert über ihre Erfahrungen berichtet hat. Ich erinnere mich noch, als ich Isabel begegnet bin, das allererste Mal. Wir wurden beide ausgezeichnet vom Business Insider und waren auf einer Abendveranstaltung gemeinsam. Ich hatte an dem Abend ein Kleid an und Isabel hat mir den ganzen Abend so Komplimente gemacht. Und sie ist so eine Person. Sie ist voll der Cheerleader. Also sie gibt dir voll das gute Gefühl und meinte so, so ein tolles Kleid gefällt mir total gut, steht dir total gut. Und ich meinte dann die ganze Zeit: Hey, ich habe es vor zwei Wochen gekauft und ich habe immer so eine übergriffige Art, ich will dann immer am liebsten mein Kleid ausziehen und es der Person schenken. Ich glaube, das kommt so ein bisschen von der persischen Erziehung. Ich war so, ok nimm du es. Ich meinte dann zu ihr: Hey Isabel, das Kleid ist erst seit wenigen Wochen auf dem Markt. Das gibt es noch online. Ich schicke dir den Link und sie meinte dann so: Lass einfach, wirklich alles okay. Und ich hab dann einfach auch nicht aufgehört.Du kannst es dir vorstellen, denn dann meinte sie irgendwann so: Du, dieses Kleid gibt’s nicht in meiner Konfektionsgröße. Und das war mir dann so unangenehm, dass ich so ignorant war in dem Moment, dass ich so von meiner eigenen Lebenswirklichkeit ausgegangen bin, dass ich gar nicht überrissen habe, was ihr Thema in dem Moment ist. Und dann war sie tatsächlich auch die allererste Person, weil zu dem Zeitpunkt war diese Idee von dem Buch nur in meinem Kopf und da war sie die allererste Person, nachdem ich mich erst mal echt geschämt habe, der ich gesagt habe: Du, Isabel, behandel es bitte ganz vertraulich, aber ich schreibe ein Buch über Vorurteile. Aber mir ist selber bewusst geworden, wie ignorant ich selber bin in den Feldern, die mich selber nicht betreffen, wo ich selber privilegiert bin. Und wärst du bereit, deine Lebenswirklichkeit zu teilen mit den Lesern, Leserinnen, die vielleicht genauso ignorant sind, wie ich es gerade war? Und sie ist tatsächlich auch die Person im Buch, die am meisten Screentime bekommen hat, also die am meisten schreiben durfte. Und dann hat sie wirklich komplett ungefiltert und das bewegendste Kapitel aus meiner Sicht geschrieben hat. Sie beschreibt dann, wie sie Angst hat, zum Beispiel auf der Straße zu essen, wie sie immer beleidigt wird, wenn sie zum Beispiel am Straßenrand sitzt und Pommes ist. Also dass da die Jugendlichen vorbeilaufen und sagen Hey, die fette Kuh ist mein Salat. Na und? Das war für mich so krass, dieses Kapitel zu lesen. Und dann beschreibt sie zum Beispiel auch, dass sie selber mit ganz starken Unterleibsschmerzen zum Arzt gegangen ist und der Arzt dann meinte, Frau Gabor, bei Ihnen ist ja ganz offensichtlich, woran das liegt. Ändern Sie doch einfach mal Ihre Ernährung. Und dann war es so, dass sie einen Blinddarmdurchbruch hatte. Also die Frau ist fast an einer Sepsis gestorben, weil der Arzt meinte ja, essen Sie mal ein bisschen Salat. Und das muss man sich mal vorstellen. Und das war für mich das Kapitel, das habe ich gelesen, hatte wirklich Tränen in den Augen. Und das finde ich so wichtig, dass dieses Buch nicht nur Betroffenen eine Stimme gibt, sondern uns alle auch sensibilisiert in den Bereichen, in denen wir selbst vielleicht privilegiert sind, damit wir selbst offener und toleranter und auch sensibler durchs Leben gehen.
00: 15:51 Irène Kilubi: Ich hab ja aufgehorcht, du hast ja vorhin erwähnt, dass ein Kapitel sich dem Thema ja den Gebärverdächtigen widmet. Kannst du mir das noch mal ein bisschen mehr erzählen? Hast du auch schon mal damit Probleme gehabt?
00: 16:04 Annahita Esmailzadeh: Also „schon mal“ ist gut. Ich glaube, jede Frau, die Mitte 30 oder so so meine Altersklasse ist, kennt das. Bei mir war es tatsächlich so, dass das angefangen hat, schon vor sechs, sieben Jahren, ganz massiv, dass ich ständig gefragt wurde: Na, wann ist es denn so weit? Und wenn ich es mal gewagt habe, irgendwie mit einem Blähbauch bei der Arbeit aufzutauchen, dann war sofort die Gerüchteküche am Start. Oder: Ich trinke sehr, sehr wenig Alkohol. Oder wenn ich mal ein Glas Wein abgelehnt habe, dann war es so – und ich ich finde, das ist so tatsächlich gesellschaftlich schlimm, dass Frauen ständig mit diesem pauschalen Gebärverdacht auseinandergesetzt werden, weil eine Freundin von mir zum Beispiel, die wurde in einem Bewerbungsgespräch wirklich unverblümt gefragt: Wie wollen Sie es denn anstellen, mit Ihren Kompetenzen das Risiko auszugleichen, das damit einhergeht, eine Frau in ihrer Altersklasse einzustellen? Und jetzt ist es klasse, dass sie, seitdem sie Anfang 20 ist, weiß, dass sie keine Kinder bekommen kann. Und sie ist nicht eine Frau, die sich dachte: Ja, okay, Kinder vielleicht ja oder vielleicht nein, sondern die das immer als integralen Wunsch hatte. Und jetzt muss man sich mal vorstellen, wie tief da der Schmerz sitzt für eine Frau, die gar keine Kinder bekommen kann. Oder auch für Frauen, die ein Kind schon verloren haben. Und man darf nicht vergessen, wie hoch die Anzahl der Frauen ist, die eine Fehlgeburt erlitten haben. Wie hoch die Anzahl der Frauen ist, die nicht schwanger werden können, obwohl sie es wollen. Und auch, wie hoch die Anzahl der Frauen ist, die einfach gar keine Kinder wollen, die für sich selber sagen: Hey, das ist es einfach nicht oder Ich habe nicht den richtigen Partner oder ich habe einfach nicht die richtigen Rahmenbedingungen, die ich mir selber wünsche. Und dass dann Menschen hingehen – und teilweise ist es ja nicht die beste Freundin, mit der man sich vielleicht super gerne über sowas austauschen will, sondern die Nachbarin oder die neugierige Arbeitskollegin, die dann immer wieder hingehen und Öl ins Feuer gießen und in dieser Wunde herumstochern. Und deswegen fand ich es so wichtig, diesem Thema ein wichtiges Kapitel zu geben in diesem Buch und auch meine Freundin Swantje Allmers zu Wort kommen zu lassen, die Mitte 40 ist, die ständig damit konfrontiert wird und die teilweise sogar als asozial gesellschaftlich dargestellt wird, weil sie nicht am Fortbestand der Gesellschaft partizipieren möchte. Ich finde tatsächlich, dass es für Frauen hinsichtlich dieser ganzen Familiendiskussion superschwer ist, nicht in irgendeiner blöden Schublade zu landen, weil entweder man hat keine Kinder und wird dann die ganze Zeit gefragt: Hey, wann ist es soweit? Oder dann ist es langsam absehbar, dass man nicht Kinder bekommen wird und dann ist man egoistisch oder karrieristisch oder man hat Kinder und ist dann entweder die unambitionierte Teilzeitmutti, die irgendwie nebenher arbeitet und deswegen beruflich aufs Abstellgleis gestellt wird, obwohl man ja nach wie vor superqualifiziert ist. Also das muss man sich mal geben, aus Arbeitgebersicht, wie dumm das eigentlich ist – oder man ist die Rabenmutter, weil man den selben Anspruch hat wie vorher. Und das ist für Frauen gesellschaftlich einfach superschwer. Und bei Männern ist es so, dass sie gefeiert werden, wenn sie das Kind zur Kita bringen. Männer werden auch gefeiert, wenn sie in Teilzeit arbeiten. Männer werden auch gefeiert, wenn sie eine längere Elternzeit nehmen inzwischen. Und bei Frauen ist es so egal, wie du es machst, du machst es im Endeffekt falsch. Und deswegen fand ich es superwichtig, diesem ganzen Dilemma, in dem Frauen, in dem Eltern stecken, ganz viel Gewicht zu geben in dem Buch.
00: 19:53 Irène Kilubi: Lass uns doch mal über das Kapitel sprechen „Die Integrationsunwilligen“. Was hat es damit auf sich? Du hast ja selbst einen Migrationshintergrund.
00: 20:01 Annahita Esmailzadeh: Das Kapitel hat mich die meiste Überwindung gekostet, weil ihr wisst ja, ich bin groß auf Social Media, hab eine große Reichweite und ich weiß, dass jedes Mal, wenn ich Rassismus adressiere, ich einen Shitstorm bekomme. Und teilweise ist dieser Shitstorm wirklich so, dass er mir an die Substanz geht. Also da kommen dann Kommentare wie: Ja, dann verpiss dich doch dahin, wo du hergekommen bist. Dann frage ich mich immer wohin? So ins Münchner Westend? Also wohin soll ich zurückgehen? Und Rassismus ist so ein Thema, das triggert massiv. Und da kommen dann auch immer von Menschen, die selber überhaupt gar nicht jemals in der Situation waren oder in der Situation sein werden, Aussagen wie: Ja, das gibt es doch gar nicht. Verstehe gar nicht, wieso Sie so ein Fass aufmachen. Und deswegen war mir klar, dass wenn ich dieses Kapitel mit ins Buch nehme, dass der Gegenwind kommen wird. Und so war es dann auch. Also ich habe damit gerechnet, dass es kommt. Aber diese Aspekte, die müssen ins Buch. Also die Vorurteile, die Menschen erfahren, die keine deutsche Muttersprache haben, die nicht deutsch aussehen, die im späteren Alter nach Deutschland gekommen sind, ist noch viel schwerer, als wenn man hier geboren ist, hier aufgewachsen ist so wie bei uns vielleicht, Irène, denn das ist ein ganz, ganz wichtiges Kapitel. Und auf was ich eingehe, und das ist tatsächlich auch so ein Tabu, ist, dass es hinsichtlich Rassismus ja auch so eine gewisse Doppelmoral gibt. Also es ist ja auch so, dass Migrationshintergrund nicht gleich Migrationshintergrund ist. Es ist so, dass wenn man ein Kind ist spanischer Eltern zum Beispiel und erst im Kindergarten Deutsch lernt, das völlig okay ist. Wenn man aber ein Kind ist türkischer Eltern oder arabischer Eltern oder iranischer Eltern und erst mal so so wie ich: Ich habe erst im Kindergarten Deutsch gelernt, dann wird das als Integrationshemmnis angesehen und ich beschreibe in dem Buch ein sehr spannendes Erlebnis. Und zwar habe ich vor rund zehn Jahren in einem Start-up gearbeitet und ich hatte einen Kollegen damals und der war seit über zehn Jahren in Deutschland und war mit einer deutschen Frau verheiratet, hatte zwei Kinder. Ein ganz, ganz cooler Kollege. Ich mochte ihn sehr gerne, aber er konnte kein Wort Deutsch. Also es war nur so: Hey, wie geht’s dir? Und er so: Gut. Und ist dann sofort ins Englische übergegangen. Und es war für uns alle völlig fein, weil wir konnten uns auf Englisch mit ihm unterhalten. Aber jetzt muss man sich mal kurz vorstellen, dieser Kollege wäre ein Türke gewesen und er hätte zwar super Englisch gekonnt, aber er hätte sich geweigert Deutsch zu lernen. Stellt euch das mal ganz kurz vor. Und wären wir dann alle so cool mit der Situation umgegangen? Ich glaube nicht. Häufig ist es ja auch so und es ist auch ein sehr wichtiger Aspekt, dass Mikroaggressionen und Alltagsrassismus, der Menschen begegnet mit einer nicht-deutschen Herkunft, auch stark variiert, je nachdem, wie nicht-deutsch man aussieht, wenn man zum Beispiel einen nicht-sichtbaren Migrationshintergrund hat und vielleicht einen Namen hat, der genauso gut deutsch sein könnte, begegnet einem viel weniger Rassismus, als wenn man so wie ich zum Beispiel offensichtliche nicht-deutsche Wurzeln hat. Und dann ist es auch so, dass einem Fragen gestellt werden, die in der Häufigkeit irgendwann anfangen können zu verletzen. Alice Hasters beschreibt es zum Beispiel sehr, sehr gut in ihrem Buch. Sie sagt diese Mikroaggressionen, die Menschen begegnen im Kontext von Rassismus, das ist wie Mückenstiche zu bekommen. Ein Mückenstich tut dir nicht weh. Zwei auch nicht, zehn fangen schon an zu schmerzen und wenn du 100 hast, kannst du irgendwann nicht mehr laufen. Und so ähnlich ist es mit Alltagsrassismus. Wenn Menschen ständig gefragt werden: Wo kommst du her? Und dann sagst du zum Beispiel: Ja, aus Münchner Westend. Ja, aber wo denn eigentlich? Und das ist ja toll, dass du so tolles Deutsch sprichst und du denkst dir: Okay, ich bin in München geboren und aufgewachsen, da ist das nicht so die Kunst, Deutsch zu können. Und wenn du gefragt wirst: Jetzt trinkst du keinen Alkohol, hat es religiöse Gründe? Und ist dein Partner denn auch aus deinem Heimatland? Und genau diese Fragen die ganze Zeit. Das hat zur Konsequenz, dass sich Menschen in ihrer eigenen Heimat nicht mehr beheimatet fühlen. Und es ist so ein Thema, mit dem setzen sich Menschen, die davon nicht betroffen sind, sehr häufig sehr ungern auseinander. Spannenderweise, als ich dann den Beitrag dazu gepostet habe auf Linkedin, gab es natürlich wieder einen Shitstorm. Aber ich finde es sehr, sehr wichtig, dass man seine eigene Reichweite nicht nur nutzt, um Dinge anzusprechen, wo man in der eigenen Bubble wechselseitig die ganze Zeit Bestätigung bekommt, sondern dass man die eigene Reichweite auch verantwortungsvoll nutzt für Themen, die Visibilität brauchen, wo aber niemand in dieses Pulverfass langen will, weil man ja weiß, dass es total auf einen wieder zurückfällt und man selber sich auch ein dickes Fell aneignen muss.
00: 25:04 Irène Kilubi: Du sprichst auch vom sogenannten „pretty privilege“. Glaubst du, dass gutes Aussehen im Berufsleben, in der Arbeitswelt Vorteile mit sich bringt?
00: 25:14 Annahita Esmailzadeh: Ich denke, ihr alle kennt dieses Vorurteil, dass Frauen, die optisch dem gesellschaftlichen Idealbild entsprechen, vermeintlich berufliche Vorteile haben. Und jetzt ist es so, dass ich mich im Kontext von dem Buch ganz stark mit der Wissenschaft dahinter auseinandergesetzt habe. Und ja, es ist so, dass attraktive Babys schon von ihren Müttern mehr Aufmerksamkeit bekommen als weniger attraktive Babys. Es ist auch so, dass gutaussehenden Schülerinnen und Schülern von Lehrkräften mehr augenzwinkernd nachgesehen wird als Kindern, die weniger gut aussehen. Und es ist tatsächlich auch so, dass attraktive Bedienungen zum Beispiel mehr Trinkgeld bekommen. Jetzt ist es aber spannenderweise so, dass diese Vorteile sich im beruflichen Kontext auf sehr unterschiedliche Art und Weise zeigen, vor allem im Kontext von Frauen. Es ist nämlich so, dass bei Berufen mit einem niedrigen sozialen Status, also wenn man zum Beispiel als Hostess oder als Kellnerin arbeitet, was alles total harte Berufe sind, versteht mich nicht falsch, aber die gesellschaftlich nicht so männlich konnotiert sind. Da ist ein gutes Aussehen tatsächlich von Vorteil. Da kriegt man eher Trinkgeld. Mit einem wird mehr Smalltalk geführt. Aber je gesellschaftlich höher die Position ist, desto größer ist die Skepsis, die Frauen begegnet, die gut aussehen. Und da wurde ein Experiment gemacht, dass betriebliche Kündigungen kommuniziert wurden von dem Account einer gutaussehenden Frau und von dem Account einer weniger gutaussehenden Frau, und sich gezeigt hat, dass die Belegschaft der gutaussehenden Frau viel mehr Boshaftigkeit zugeschrieben hat und sich gewünscht hat, dass dieser Frau selber gekündigt wird. Und deswegen: Je männlich konnotierter und je einflussreicher, je mächtiger die Position, desto mehr wird gutes Aussehen zum beruflichen Hindernis. Und das ist Menschen oftmals nicht so wirklich bewusst, wenn sie über „pretty privilege“ei sprechen. Ja, man hat vielleicht den Vorteil, dass wenn man in eine Bar geht, man einen Drink ausgegeben bekommt. Aber seien wir doch mal ganz ehrlich, wir können uns unsere Drinks doch wirklich selber kaufen, oder? Auf diesen Vorteil können die allermeisten von uns verzichten. Aber der Nachteil, der sich zeigt, ist, dass wir uns doppelt beweisen müssen. Wenn man auf Basis des Aussehens sich denkt: Ja okay, diese Person ist nur aufgrund des Erscheinungsbildes überhaupt da, wo sie jetzt aktuell ist und nicht wirklich aufgrund von Kompetenzen.
00: 27:48 Irène Kilubi: Was war denn eigentlich dein persönlichstes Kapitel?
00: 27:52 Annahita Esmailzadeh: „Die Arbeiterkinder“, wo ich über die Dimension der sozialen Herkunft spreche, weil die Diversitätsdimension der sozialen Herkunft ist ja eine, die man Menschen nicht ansieht. Anders als die meisten anderen. Aber gleichzeitig entscheidet diese Diversitätsdimension ganz massiv über den Lebensweg von Menschen. Also Akademikerkinder zum Beispiel haben eine viel höhere Chance, es aufs Gymnasium zu schaffen, es an die Universität zu schaffen, einen universitären Abschluss zu machen. Und hier ist das Spannende: ja, in einer idealen Welt sollte unser beruflicher Erfolg nicht von Studienabschlüssen abhängen. Aber faktisch ist es so, und das zeigen auch Studien, finde ich sehr, sehr spannend, dass wenn man aus einem finanzstarken Hintergrund kommt, da der Studienabschluss gar nicht so eine große Rolle spielt, wenn man Kapital hat aus dem Elternhaus, man hat Netzwerke aus dem Elternhaus, man schafft es auch so irgendwie, auch ohne Studium weiterzukommen. Für Menschen, die aus finanzschwachen Hintergründen kommen, die kein Kapital haben, die kein Polster haben, die kein Netzwerk haben, ist ein Studienabschluss oftmals der Schlüssel, um es aus dieser prekären Gesellschaftsschicht überhaupt raus zu schaffen. Und da zeigt sich so ein Teufelskreis, weil man es ja meistens dann gar nicht schafft, überhaupt einen Studienabschluss zu machen und dann wieder das an die Generation weitergibt. Und deswegen ist soziale Mobilität in Deutschland tatsächlich ein Thema. Und auch dieser Leistungsmythos der Meritokratie, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, dass es reicht, sich allein nur ganz, ganz viel anzustrengen, das entspricht nicht der Realität in Deutschland. Und das ist etwas, damit muss man sich auseinandersetzen, und da müssen auch Menschen ihre eigenen gesellschaftlichen Privilegien hinterfragen. Also ich bin in einem Viertel aufgewachsen, in München, das einen sehr, sehr hohen Migrationsanteil hatte, wo sehr viele Menschen gar keinen Job hatten. Ich war eine der wenigsten, die es überhaupt aufs Gymnasium geschafft haben. Ich war die einzige mit Migrationshintergrund, die es damals aufs Gymmi geschafft hat. Und ich wurde damals mit meinem Zeugnis quasi katapultiert in eine andere Welt. Für mich war dann mein Studienabschluss, dieser Masterabschluss, tatsächlich der Schlüssel, damit ich es in diese Welt hinein schaffe, in der ich mich jetzt heute bewege. Und für mich ist es bis heute surreal. Ich beschreibe zum Beispiel in dem Buch auch, dass sehr, sehr viele aus meiner alten Gegend, die mit mir damals zur Schule gegangen sind, heute keinen Job haben oder in Berufen arbeiten, wo sie sich gerade mal so über Wasser halten können. Und meine beste Freundin ist zum Beispiel mit Anfang 20 an einer Überdosis gestorben. Und so was ist für sehr viele Menschen, die aus privilegierten Hintergründen kommen, eine Lebensrealität, die ganz, ganz fern ist, wo sie es nicht mal nachempfinden können, wie es sich anfühlt, sich so hoch kämpfen zu müssen. Für mich ist es wirklich faktisch so, dass mir die ganze Zeit bewusst ist, unterbewusst, dass ich da eigentlich gar nicht hingehöre, wo ich bin. Dass ich jetzt eine Managerin bin bei Microsoft, bei einem IT-Konzern, von dem ich als Kind immer gehört habe und mir dachte: Boah, bei Microsoft irgendwann mal zu arbeiten und dann dort so einen großen Bereich zu leiten. Das war für mich absolut absurd und ich glaub, dass es für mich unterbewusst immer noch absurd ist. Und deswegen habe ich immer diesen Treiber, und den kennen sehr, sehr viele Arbeiterkinder. Und die können das nachvollziehen. Für mich ist es so, dass ich immer unterbewusst die Angst habe, dass diese Seifenblase, in der ich mich jetzt gerade vermeintlich befinde, einfach platzt. Dass ich das Gefühl hab, mir keinen Fehler leisten zu können, weil ich weiß, ich habe kein finanzielles Polster und weil ich weiß, wenn ich falle, dann falle ich tief. Und diese ganzen Ängste verstehen sehr viele Menschen nicht, die privilegiert aufgewachsen sind. Und die verstehen auch nicht, wieso man so getrieben ist. Und bei mir war es zum Beispiel so: Ich habe mir nie eine Pause gegönnt. Ich habe nach meinem Masterabschluss nach fünf Tagen angefangen zu arbeiten, weil ich die ganze Zeit getrieben bin von dieser Angst. Und deswegen war es mir sehr wichtig, auch der Diversitätsdimension der sozialen Herkunft ganz viel Raum zu geben in diesem Buch.
00: 32:17 Irène Kilubi: Hast du denn Ratschläge, Empfehlungen, was jede Einzelne von uns dagegen tun kann?
00: 32:23 Annahita Esmailzadeh: Also im Hinblick auf Vorurteile ist es, glaube ich, das Allerwichtigste, dass wir erst mal akzeptieren, dass wir sie haben. Weil wenn wir so agieren wie diese Herren, die immer nach meinen Keynotes zu mir kommen, die sagen: Hey, das gibt es gar nicht, das findet alles in deinem Kopf statt, oder? Fand ich auch sehr, sehr hart: letztens kam einer zu mir, meinte, das ist so eine Opfermentalität von Leuten, die einfach nicht performen. Dann sorgt das dafür, dass man ja überhaupt gar nicht reflektiert darüber, ob es vielleicht so ist, dass man Menschen auch Unrecht tut. Deswegen der allererste Schritt: reflektieren und vielleicht mal in sich gehen und überlegen, gibt es eine Kollegin, einen Kollegen, den ich irgendwie nicht ausstehen kann und ich kenne diese Person überhaupt nicht. Und dann vielleicht mal sich zu konfrontieren mit genau diesen Personen und vielleicht mal mit dieser Kollegin Mittagessen zu gehen. Sehr häufig ist es auch so, dass man nach diesen Treffen merkt, dass man diese Person aus dieser Schublade wieder rausholen muss. Und ich glaube, dass das auch ganz wichtig ist für Betroffene, vor allem im Arbeitskontext. Wenn ihr in einem Arbeitsumfeld seid, wo ihr euch wahnsinnig viel Mühe gebt, und das ist wichtig. Es ist wichtig, auch zu leisten. Jede Arbeitsbeziehung ist auch immer ein Geben und Nehmen. Man kann nicht irgendwo anfangen und dann hoffen, dass einem die Welt zu Füßen gelegt wird. Aber wenn ihr irgendwo seid, wo ihr euch wirklich ins Zeug legt, wo ihr leistet und immer noch das Gefühl habt, ihr werdet nicht gesehen, ihr fühlt euch nicht wohl dort, dann solltet ihr damit aufhören, die Schuld bei euch selbst zu suchen, denn es ist vielleicht einfach nicht das richtige Umfeld für euch. Und dann braucht ihr eine Umgebung, die euch verdient hat und euch sieht mit all euren Fähigkeiten und Talenten.