Nicht den üblichen Erwartungen ihrer Umwelt zu entsprechen, damit ist Rabia Sertkaya von klein auf vertraut – als technikaffine Frau aus der Generation Z mit Migrationsfamiliengeschichte und Muslima mit Kopftuch. Vorurteile und Rollenstereotype hat sie in allen Ausprägungen laufend erlebt. Doch bei ihrem jetzigen Arbeitgeber – wo sie als Projektingenieurin tätig und aktuell u.a. mit einem mRNA-Kompetenzzentrum befasst ist – erlebt sie ein anregendes, offenes und unterstützendes Arbeitsklima und ein Umfeld, das Raum bietet für persönliche Entfaltung und dazu ermutigt, etablierte Rollenklischees zu überwinden.
herCAREER im Interview mit Rabia Sertkaya, Project Engineer Qualification/ Validation bei Exyte Central Europe GmbH.
„Wir hindern Frauen in ihrer persönlichen Entwicklung und Ausnutzung ihres Potenzials, indem wir sie auch durch unsere nonverbale Kommunikation einschränken oder hemmen.“
herCAREER: Hast Du als Frau in einem technischen Studiengang besondere Erfahrungen gemacht – warst Du mit Rollenstereotypen konfrontiert oder hast Gender-Diskriminierung erlebt? Und wie ist das in Deinem Arbeitsumfeld, sowohl den Kolleg:innenkreis als auch die Kund:innen betreffend?
Sertkaya: Es fällt mir nicht ganz leicht, die Frage, ob ich als Frau besondere Erfahrungen in Bezug auf Diskriminierung oder Rollenstereotype gemacht habe, zu beantworten. Ich muss erst einmal in mich gehen und mir bewusst machen, dass die Dinge, die ich täglich erlebe, eigentlich nicht normal sein sollten. Leider sind Frauen, oder zumindest ich persönlich, regelmäßig mit geschlechtsbezogener Diskriminierung konfrontiert, und diese wird oft nicht als solche wahrgenommen. Viele von uns, mich eingeschlossen, ignorieren sie, winken sie mit einer Handbewegung ab, da sie uns so alltäglich und unveränderbar erscheint.
In meinem Leben – vom Teenager- bis hin zum Erwachsenenalter – habe ich in verschiedenen Bereichen gearbeitet. Ich habe Zeitschriften ausgetragen, Nachhilfe gegeben, im Einzelhandel als Kassiererin gearbeitet, während meines Studiums als Mentorin fungiert, ein Praktikum in einem pharmazeutischen Unternehmen absolviert und bin nun Projektingenieurin in einem international renommierten pharmazeutischen Unternehmen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Leider muss ich sagen, dass ich in jeder Phase meines Lebens als Frau mit Rollenstereotypen konfrontiert wurde. Als Nachhilfelehrerin und Mentorin im Fach Mathematik wurde ich immer wieder überrascht betrachtet und bekam zu hören, wie gut ich Mathematik beherrsche und in der Lage sei, Nachhilfeunterricht zu geben. Als Pharmatechnik-Studentin und Projektingenieurin höre ich, es sei erstaunlich, dass ich technische Prozesse sofort verstehe und fortsetzen kann, ohne dass sie mir ein zweites oder drittes Mal erklärt werden müssen.
Leider neigen wir dazu, unsere Mitmenschen zu Beginn in vorgefertigten Rollen zu sehen, die aufgrund unserer vergangenen Erfahrungen verfestigt wurden. In unserer Gesellschaft existieren bestimmte Rollenbilder für Frauen, die alle Geschlechter im Kopf haben. Anhand dieser Stereotype beurteilen wir Frauen in unserer Umgebung von vornherein und diskriminieren sie dadurch.
Wir hindern Frauen in ihrer persönlichen Entwicklung und Ausnutzung ihres Potenzials, indem wir sie auch durch unsere nonverbale Kommunikation einschränken oder hemmen. Unsere Mimik, Reaktionen und Handlungen geben ihnen zu verstehen, dass sie nicht dem Rollenbilde einer Frau entsprechen.
In meinem derzeitigen Arbeitsumfeld herrscht eine harmonische familiäre Arbeitsatmosphäre, in der Diversität und kulturelle Unterschiede gelebt und respektiert werden. Obwohl die pharmazeutische Branche traditionell von Männern dominiert wird, beweisen Frauen täglich ihre Qualifikation und Leistungsfähigkeit. Insbesondere meine Abteilung und das Team, in dem ich tätig bin, setzen auf Offenheit, fördern andere basierend auf deren Fähigkeiten und Leistungen und ermöglichen Frauen, ihr volles Potenzial zu entfalten und sich weiterzuentwickeln.
Es ist jedoch ein täglicher Kampf gegenüber der Außenwelt, indem wir versuchen, Stereotypen zu durchbrechen. Wir zeigen, dass Qualifikationen und Leistungen nicht vom Geschlecht abhängig sind, und erinnern uns selbst täglich daran, dass wir mit Fleiß und Engagement unsere Ziele und Wünsche erreichen können.
herCAREER: Kannst Du im Arbeitsalltag Deinen Glauben so praktizieren, wie Du es möchtest? Welche praktischen Erfahrungen hast Du damit gemacht?
Sertkaya: Die praktische Umsetzung des Islam ist äußerst vielfältig. Sie reicht vom bloßen Glauben an die Existenz Gottes bis hin zur vollständigen Hingabe des Lebens an diese Religion. Die Frage, ob man seinen Glauben im Arbeitsalltag so praktizieren kann, wie man es möchte, ist daher für jeden individuell zu beantworten.
Vielen Menschen in Deutschland, die sich mit dem Thema Religion auseinandergesetzt haben, sind Begriffe wie öffentliches Glaubensbekenntnis, Ramadan, Gebetszeiten, soziale Spenden oder die Pilgerfahrt bekannt. Meine persönlichen Erfahrungen im Hinblick auf das praktische Ausleben meiner Religion im Arbeitsalltag sind sehr positiv. Ich kann meinen Glauben auf einer tieferen Ebene praktizieren, indem ich das aussagekräftige Symbol des Kopftuchs trage. Die jährliche Ramadan-Zeit wird von meinem Umfeld akzeptiert und respektiert. Es gibt zwar Fragen, die mich heute noch zum Lachen bringen, wie zum Beispiel die Annahme, dass wir im Ramadan tagsüber nicht einkaufen gehen können. Liebe Leser:innen, wir verwandeln uns während des Ramadan nicht in Vampire.
Soziale Spenden, die Pilgerfahrt und vieles mehr werden entweder in meiner Freizeit oder durch Urlaub abgedeckt.
Die Integration der Gebetszeiten stellt die bekannteste und anspruchsvollste Herausforderung im Arbeitsalltag dar. Es handelt sich um die fünf täglich zu wiederholenden Gebete, zur Morgendämmerung, am Mittag, am Nachmittag, zum Sonnenuntergang und am Abend. Besonders die Gebete am Mittag und am Nachmittag überschneiden sich oft mit meinen Hauptarbeitszeiten im Büro. Die Herausforderung besteht darin, die richtigen Rahmenbedingungen im Arbeitsalltag zu schaffen. Dazu gehören ein separater Raum für das Gebet, Möglichkeiten für die rituelle Waschung, angemessene Kleidung und vieles mehr.
Für mich persönlich steht noch nicht endgültig fest, wie ich langfristig mit dieser Situation umgehen möchte. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Mittagsgebete in den Arbeitsalltag zu integrieren. Eine Option ist es, die Mittagspause zu verschieben und eine nahegelegene Moschee zu besuchen. Homeoffice ist eine beliebte Wahl, um das private Wohlbefinden besser mit dem Arbeitsleben zu vereinbaren. Darüber hinaus gibt es einige Unternehmen, die entsprechende Rahmenbedingungen für das Gebet zur Verfügung stellen können.
herCAREER: Was könnten Arbeitgeber:innen Deiner Meinung nach noch tun, um für alle Bewerber:innen attraktiv zu sein?
Sertkaya: Ein Vorbild in dieser Hinsicht ist meine aktuelle Arbeitgeberin, die ich auf einer unserer Hochschulkarrieremessen kennengelernt habe. Sie hat mich sofort mit ihrer souveränen, selbstbewussten und sympathischen Art fasziniert. Ihre Präsentation des Unternehmens, der Ablauf des Arbeitsalltags und die möglichen Tätigkeiten haben mich überzeugt. Sie hat es geschafft, Exyte als unglaublich spannendes, souveränes und zukunftsorientiertes Unternehmen darzustellen.
Das Unternehmen, von dem ich zuvor noch nie gehört hatte, weckte mein Interesse und ich beschloss, mich dort zu bewerben. Während meiner Bewerbung und zu Beginn meiner Arbeitszeit wurden immer wieder Gespräche über mögliche Entwicklungsoptionen, potenzielle Spezialisierungsbereiche, Förderprogramme und die Chance zur persönlichen Weiterentwicklung geführt.
Ich bin heute nach wie vor eine überzeugte und engagierte Mitarbeiterin bei Exyte. Jeden Tag gehe ich gerne zur Arbeit und erbringe gemeinsam mit meinen Kolleg:innen Bestleistungen. Das zeigt sich nicht nur in diesem Interview, sondern auch in meinem Podcast und den vielen Werbekampagnen, an denen ich mitgewirkt habe. Fast wie ein wandelndes Werbeplakat für Exyte.
Meiner Erfahrung nach sind Arbeitgeber:innen erfolgreicher, die persönliche Besuche auf Messen oder bei anderen Veranstaltungen oder in Hochschulen durchführen, um potenzielle Bewerber:innen anzusprechen. Eine Face-to-Face-Werbung hat eine größere Wirkung als eine Stellenanzeige, insbesondere bei der jüngeren Generation.
Darüber hinaus ist es für Arbeitnehmer:innen überzeugend, wenn Arbeitgeber:innen karrierefördernde Positionen anbieten mit der Möglichkeit, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Die Aussicht auf berufliche Entwicklung und Raum für persönliches Wachstum sind entscheidende Faktoren, die Bewerber:innen ansprechen.
herCAREER: Bei herCAREER geht es vor allem um den fachlichen Austausch, der auf den persönlichen Erfahrungen und dem Wissen der Sparringspartner:innen aufsetzt. Zu welchen Themen kannst Du im Vorfeld / auf der Messe / im Nachgang als Austauschpartnerin fungieren – in Schlagworten?
- Frauen mit und ohne Kopftuch
- Frauen in der Pharmabranche
- Religion und Arbeitsalltag
Zur Kontaktaufnahme bitte die von der Interviewpartner:in angegebenen Möglichkeiten nutzen und sich auf das Interview bei herCAREER-Learn & Connect beziehen.
Über die Person
Rabia Sertkaya, geboren 1995, arbeitet als Projektingenieurin bei Exyte. Zuvor studierte sie Pharmatechnik mit dem Schwerpunkt Betriebstechnik an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen. Sie ist als Contractor für die Qualifizierung und Validierung von pharmazeutischen Produkten verantwortlich. Ihre derzeitige Tätigkeit besteht darin, pharmazeutische Produktionsanlagen eines mRNA-Kompetenzzentrums bei der Wacker Chemie AG zu qualifizieren. Es ist ein Teil des Programms der Bundesregierung zur Vorbereitung auf zukünftige Pandemien.