„Noch nie gab es so viel Wohlstand und Medizin wie heute. Trotzdem geht es vielen Menschen schlecht. Das liegt an der Art, wie wir arbeiten“, sagt der Arzt und Buchautor Gabor Maté im Gespräch mit der ZEIT ONLINE.
„Je weniger Handlungsfreiheit, Sinn und Bedeutung ein Job mit sich bringt, desto schädlicher ist er für die Gesundheit.“ Arbeitslosigkeit erhöhe zwar das Risiko für Herzinfarkte und psychische Erkrankungen, aber ein schlechter Job sei noch gesundheitsschädlicher.
„Der Kapitalismus hat ein Bild vom Menschen geschaffen, das seinen eigenen ideologischen Interessen entspricht. Nämlich, dass Menschen von Natur aus wetteifern und aggressiv, habgierig und egoistisch sind.“ Doch wären wir wirklich so, dann hätten wir uns als Spezies nie weiterentwickelt; nur durch gegenseitige Unterstützung hätte die Menschheit überlebt. „Der Kapitalismus hat große wissenschaftliche und technische Errungenschaften hervorgebracht, aber er hat nichts mit der menschlichen Natur zu tun.“
Fleiß, der als Tugend gilt, könne krank machen, „wenn ich mich zu sehr mit meiner Rolle, meinen Pflichten und meiner Verantwortung identifiziere und dabei meine Bedürfnisse vernachlässige.“ Arbeitssucht sei etwas anderes als Identifikation mit der Arbeit. „Arbeitssüchtig zu sein heißt: Ich bin nur glücklich, wenn ich arbeite. Arbeite ich nicht, bin ich gereizt und deprimiert, wie jeder andere Süchtige mit Entzugserscheinungen.“
Eine große Rolle spielt für Maté die Unterdrückung von Gefühlen. „Forscherinnen in den USA haben untersucht, wie sich schlechte Chefs auf die Gesundheit von Frauen auswirken. Mit schlecht meine ich unfreundliche, kontrollierende oder feindselige Chefs. Die Frauen waren wütend, konnten das aber nicht zeigen, weil sie sonst ihre Anstellung verloren hätten. Sie hatten deshalb ein höheres Risiko für Herzkrankheiten. (…) Unsere Gefühle sind Teil des gleichen Systems wie unser Immunsystem, Hormone, Nerven, Verdauung und das Herz. Unterdrücken wir uns emotional, dann tun wir das auch physiologisch.“
Autoimmunkrankheiten sind bei Frauen häufiger als bei Männern. „Ein Beispiel: In den Dreißigerjahren hatten in Nordamerika genauso viele Männer wie Frauen Multiple Sklerose. Heute haben dreieinhalbmal so viele Frauen diese Krankheit. Frauen fällt es in unserer Kultur zu, emotional für ihre Partner und Familien zu sorgen. Seit den Dreißigerjahren sollen sie aber nicht nur diese Arbeit leisten, sie sollen auch noch Geld verdienen. Und obwohl es Frauen wirtschaftlich heute besser geht als vor hundert Jahren, sind sie durch diese Doppelrolle gestresster.“
Um gesund zu bleiben, müssten wir aufhören, nach den Idealen des Kapitalismus zu leben.
Krankheit sei „eine ganz normale Antwort auf abnormale Umstände. (…) Aber man kann auch innerhalb dieses Systems anders leben, wenn man sich selbst akzeptiert und auf seinen Körper, seine Gefühle und seine Bedürfnisse achtet, statt sie zu unterdrücken.“
Welche Erfahrungen habt Ihr mit Arbeit und Gesundheit gemacht?
Ein Beitrag von Natascha Hoffner, Founder & CEO of herCAREER I WiWo-Kolumnistin I LinkedIn-TOP-Voice 2020 I W&V 2019 – 100 Köpfe
veröffentlicht bei LinkedIn 16.08.2023