Warum müssen wir Macht neu denken?
Weil das gängige Verständnis von Macht machiavellistisch und autoritär ist, sagt Sophie Pornschlegel. Und sie muss es wissen, denn die Politikwissenschaftlerin arbeitet als politische Analystin in Brüssel und hat ein Buch zum Thema geschrieben.
Klimakrise, Krieg, Rechtspopulismus – die Welt befindet sich in einer Polykrise. Die politischen Herausforderungen auf nationaler und internationaler Ebene sind so zahlreich, dass konstruktive Lösungen aus dem Blick geraten, obwohl gerade jetzt die Weichen für eine Neuordnung gestellt werden müssen. Sophie Pornschlegel erklärt in dieser Folge, dass Demokratie vor allem eines braucht: ein neues Verständnis von Macht und das Bewusstsein, dass jede:r Einzelne diesen neuen Machtbegriff im Alltag mitprägen muss und kann.

Schlüsselgedanken aus dieser Folge:

  • Machtverhältnisse sind überall da, wo menschliche Beziehungen sind. Darum muss sich Jede und Jeder mit dem eigenen Machtverständnis auseinandersetzen.
  • Macht ist negativ behaftet, weil sie fast immer zum Wohl von Individuen und priviligierten Gruppen eingesetzt wird. Sie wird zu oft aggressiv und oppressiv eingesetzt.
  • Macht könnte ein positives Image haben, wenn sie als Gestaltungsmittel und kollektive Kraft für die Gemeinschaft ausgelebt würde.
  • Der Wandel beginnt beim Individuum: erkenne Deine Macht, nutze sie zum Positiven. In Beziehungen, als Führungskraft, als Wähler:in und Bürger:in.

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Thema

Politik | Gesellschaft

Angaben zur Referent:in

Sophie Pornschlegel arbeitet als politische Analystin in Brüssel. Sie ist Policy Fellow beim Progressiven Zentrum in Berlin, lehrt an der Sciences Po Paris und forscht zu Europapolitik und der Zukunft der Demokratie. Ihre publizistischen Beiträge erscheinen bei Deutschlandfunk Kultur, ZEIT Online, FAS und im Tagesspiegel.

Der Beitrag wurde im Rahmen der herCAREER Expo 2024 aufgezeichnet und als Podcast aufbereitet.

[00:00:00] Sophie Pornschlegel: Menschen, die in sehr hohen Machtpositionen sind, sehen Menschen nicht mehr als gleich an. Das heißt aber nicht, dass man Macht grundsätzlich als etwas Negatives sehen sollte. Man kann sich nicht davon entfernen, wenn man in der Gesellschaft lebt. Das heißt, am besten, man versucht es irgendwie so zu gestalten, dass es möglichst demokratiekompatibel ist und auch menschlich.

[00:00:44] Kristina Appel: Herzlich willkommen beim HerCareer Podcast. Du interessierst dich für aktuelle Diskurse aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, und das insbesondere aus einer weiblichen Perspektive? Vielleicht wünschst du dir persönliche Einblicke in den Arbeitsalltag von Menschen und Unternehmen, die sich dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel stellen? Dann bist du hier genau richtig. Warum müssen wir Macht neu denken? Weil das gängige Verständnis von Macht machiavellistisch und autoritär ist, sagt Sophie Pornschlegel. Und sie muss es wissen, denn die Politikwissenschaftlerin arbeitet als politische Analystin in Brüssel und hat ein Buch zum Thema geschrieben. Ich bin Kristina Appel: und habe im Live-Gespräch auf der HerCareer Expo mit Sophie darüber gesprochen, wie ein neuer, konstruktiverer Machtbegriff aussehen könnte und warum wir ihn dringend brauchen.

[00:01:39] Kristina Appel: Herzlich willkommen. Ich freue mich ganz besonders, dass Sophie da ist. Danke, dass du dir Zeit für uns nimmst. „Am Ende der gewohnten Ordnung. Warum wir Macht neu denken müssen.“ Dieses Buch hast du geschrieben, was ich ganz, ganz faszinierend fand. Du bist Politikwissenschaftlerin, Publizistin und politische Analystin in Brüssel. Ich weiß, dass in deiner Jobbeschreibung ist noch viel länger. Aber ich spar mir das jetzt einfach. Lass uns aber gleich mal so ein bisschen drüber sprechen, was du machst. Was macht eigentlich eine politische Analystin?

[00:02:09] Sophie Pornschlegel: Also ich arbeite zurzeit als stellvertretende Geschäftsführerin bei einem Thinktank, der heißt „Jacques Delors“, es gibt drei davon, einen in Berlin auch, bei der Hertie School ist der angedockt. Also es sind drei unterschiedliche Thinktanks mit dem gleichen Namen und der gleichen Idee natürlich dahinter. Und ich arbeite in dem in Brüssel und wir sind ein ganzes Team von zehn Leuten und da haben wir verschiedene Programme. Und ich habe ein bisschen das Politikfeld gewechselt, weil ich davor viel zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Institutionen gearbeitet habe. Und nachdem ich fünf Jahre lang mich mit Ungarn und Polen beschäftigt hatte, hatte ich dann weniger Lust darauf und mache jetzt viel mehr zu Nachhaltigkeitsthemen und dem Green Deal vor allem. Und es ist so ein bisschen interessant, weil ich nach dem Studium tatsächlich angefangen hatte, im Energiebereich zu arbeiten, also als ganz böse Lobbyistin und jetzt eben auf der anderen Seite so ein bisschen rauskomme und immer noch im Thinktank-Bereich, weil Thinktank ist ein wahnsinnig schöner Job, man verbindet verschiedene Bereiche. Also es hat natürlich einen politischen Aspekt, es hat einen wissenschaftlichen Aspekt und auch einen sehr starken Medienaspekt. Also man ist auch mit Medien in Kontakt und muss auch versuchen, eben wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst klar rüberzubringen und Verständnis dafür zu entwickeln. Also das bringt alles zusammen und ich mag es sehr gerne und ab und zu schreibe ich dann auch noch Bücher.

[00:03:27] Kristina Appel: Darauf zielte meine Frage ab, genau. Ich wollte einfach nochmal zeigen: Du sitzt in Brüssel auch im Zentrum der Macht. Du hast sehr viel Zugriff auf sehr viele Daten. Du beschäftigst dich den ganzen Tag damit und du bist zum Schluss gekommen, dass wir ein neues Verständnis von Macht brauchen. Warum müssen wir Macht neu denken?

[00:03:45] Sophie Pornschlegel: Also es ist interessant, weil ich würde tatsächlich sagen, dass die Macht sehr diffus ist. Also in Deutschland hat man das Gefühl, ja, die Macht ist in Brüssel und in Brüssel denkt man sich ja, die Macht ist eigentlich in den Hauptstädten, weil im Endeffekt wird in der EU nichts entschieden, wenn die Hauptstädte nicht damit einverstanden sind, also die verschiedenen Regierungen. Und das ist so ganz interessant, weil dadurch eben dieses Machtverständnis sehr diffus ist. Wer macht eigentlich die Politik, wer ist eigentlich dafür zuständig? Und das sind so tatsächlich relativ komplexe Prozesse, wo so viele Akteure mit drin reinspielen, es ist relativ schwierig, dann zu sagen: das ist die Person, die dafür verantwortlich ist. Und das hat dann eben auch den negativen Effekt, dass halt sich sehr viele Leute auch aus ihrer Verantwortung ziehen können, weil es halt ein bisschen diffus gestaltet ist. Und das ist eines der vielen Probleme, die wir mit der Macht haben. Hat natürlich auch was Strukturelles, bedingt, das ist ja gut in der Demokratie, dass wir eben eine Bevölkerung haben, die erst mal wählt und dann dadurch halt eben verschiedene Parteien als Auswahl haben und dann eben verschiedene Akteure verschiedene, also die Macht praktisch aufgeteilt ist. Und dass es eben auch eine Gewaltenteilung gibt und es eben nicht so eine Konzentration von Macht gibt. Aber was wir grundsätzlich sehen oder warum ich auch dieses Buch geschrieben habe, ist, dass wir in der Demokratie ein doch recht autoritäres Machtverständnis noch haben, dass sehr machiavellistisch gedacht ist, wo es sehr viel um individuelle Macht geht, die eben nicht besonders stark in die Richtung Gestaltungsmacht geht und auch nicht in die Richtung der kollektiven Macht, sondern halt dieses typische „House of Cards“, „ich muss über Leichen gehen, um an die Macht zu kommen“. Und es ist auch interessant, weil es gibt verschiedene – also ich habe mir so ein bisschen auch psychologische Studien angeschaut dazu, was Macht eigentlich mit Menschen macht. Und es ist tatsächlich nicht positiv. Also es hat ein Suchtpotenzial und Menschen, die in sehr hohen Machtpositionen sind, haben eine Tendenz, weniger zuhören zu können, sie sind weniger empathisch und sehen Menschen nicht mehr als gleich an. Also die sehen halt Menschen in Hierarchien und das ist auch schon bestätigt. Das heißt aber nicht, dass man Macht grundsätzlich als was Negatives sehen sollte und auch nicht so in die Schmuddelecke stecken. Ich habe ganz viel Hannah Arendt lesen können für dieses Buch und die ist wirklich top, dass man eben auch versteht, dass Macht immer da ist, wenn man eine soziale Beziehung hat. Das heißt, man kann sich nicht davon irgendwie entfernen, wenn man in einer Gesellschaft lebt. Das heißt, am besten, man versucht es irgendwie so zu gestalten, dass es möglichst demokratiekompatibel ist und auch menschlich.

[00:06:05] Kristina Appel: Du beschreibst im Buch unsere gegenwärtige Situation als Polykrise. Kannst du uns das ein bisschen genauer beschreiben? Was sind diese Krisen und warum gehen sie uns auch als Individuum was an? Also eben nicht nur unsere Staatsoberhäupter.

[00:06:21] Sophie Pornschlegel: Grundsätzlich sollten wir uns ja alle mit Politik beschäftigen, weil wir alle wählen gehen. Und das ist ja der wichtigste Punkt. Bei Polykrise meine ich so eine Mischung aus punktuellen Krisen, die wir erlebt haben, und eben auch systemischen Krisen, die sich anhäufen. Und da ich relativ nahe am politischen Geschehen bin, sehe ich eben, wie aufgrund dieser Krisen dann die systematischen Krisen so ein bisschen wegfallen und man da keine Antworten mehr findet. Und ein typisches Beispiel dafür ist natürlich die Energiekrise, die wir hatten aufgrund des russischen Angriffskrieg in der Ukraine, wo dann alle gesagt haben: Gott, die Energiepreise gehen nach oben. Unser Wirtschaftsmodell funktioniert nicht mehr, weil es eben aus russischem Gas bestand, das relativ billig war. Wie gehen wir damit um? Und dann war auf einmal die Frage nach der Klimakrise so ein bisschen aus dem Weg, weil wir ganz schnell jetzt eine Antwort finden mussten. Und dann gab es eben EU-Fördergelder, zum Beispiel aus der großen Krise, also diese ganzen Instrumente, die dann Deutschland natürlich auch Geld gegeben haben. Und dann hat man gesehen, dass eben diese systematischen Krisen nicht mehr wirklich angegangen werden. Und die Politik hat wirklich ein Problem damit, jetzt eben langfristig strategisch Lösungen zu finden für diese Anhäufung von Krisen, die wir haben. Und die haben natürlich dann auch ebenso einen Effekt, dass sie sich gegenseitig natürlich noch verstärken. Und damit meine ich nicht nur die Klimakrise, sondern auch eine Krise des Politischen an sich, also auch mit der Demokratie. Die Tatsache, dass wir Rechtspopulismus haben, hilft natürlich nicht dabei, Lösungen zu finden und konstruktiv damit umzugehen. Und bei den punktuellen Krisen würde ich sagen, schon seit 2008 hatten wir die Wirtschafts- und Finanzkrise und seitdem hat es halt irgendwie nicht so wirklich aufgehört. Also wir hatten Brexit, Trump, 2015, was als Migrationskrise bezeichnet wurde, Corona, den russischen Angriffskrieg. Also es häuft sich einfach. Ich habe das Gefühl, wir sind so in ständigem Krisenmanagement und schaffen es dadurch nicht irgendwie langfristiger zu denken.

[00:08:10] Kristina Appel: Dein Buch heißt „Das Ende der gewohnten Ordnung“. Wie sah denn die gewohnte Ordnung aus? Also was war aufgeräumt und wo haben wir besser funktioniert, in Anführungsstrichen?

[00:08:21] Sophie Pornschlegel: Also man hat ja immer, um vielleicht auf die EU zurückzugehen, sie ist ja Frieden, Wohlstand, Sicherheit, Parteien im demokratischen Spektrum, die sich die Macht immer schön aufteilen, einmal SPD, dann große Koalition, bisschen CDU, ab und zu mal hier und da die FDP, also alles so schön und gut. Und Wirtschaftsmodell war ja dasselbe. Wir haben günstige Energie, unsere Automobilhersteller kriegen das alles schon gebacken, wir haben hier überhaupt keine Arbeitslosigkeit. Das war alles so gediegen, würde ich sagen, und vielleicht auch weniger krisenresistent, weil man eben nicht überlegt hat, wie man das resilient gestaltet, wie man… Energiewende, davon reden wir über 15 Jahren und haben es immer noch nicht richtig hinbekommen. Unsere Infrastruktur ist marode. Also wir sehen schon, dass wir einfach nicht in die Zukunft investiert haben und dadurch eben auch eine bestimmte Ordnung für immer so gegeben gesehen haben, die das aber nicht ist. Und jetzt haben wir den Salat und die Frage ist ein bisschen, wie schaffen wir es, da irgendwie rauszugehen? Und es ist so ein bisschen dieser Knackpunkt jetzt und es ist auch ganz interessant, bei den politischen Diskussionen in Brüssel kriegt man das wirklich mit, dass sie eben versuchen, jetzt die Köpfe zusammen zu stecken und sich zu überlegen, wie kommen wir da raus? Weil jetzt kommt’s halt eben auch um die Wettbewerbsfähigkeit. Und wenn’s dann halt eben jetzt zum Beispiel eine extrem hohe Arbeitslosigkeitquote geben sollte in Europa, dann wissen wir aus der Geschichte, dass es natürlich noch mehr Frustration gibt und wahrscheinlich noch mehr Rechtspopulismus. Und das sind so die Sachen, wo man jetzt versucht, eben dran was zu ändern. Aber wie gesagt, ich arbeite jetzt sehr viel zu Green Deal und Nachhaltigkeit. Und ich muss sagen, wir wissen ja, was die Klimakrise macht, und ich bin mir nicht sicher, ob wir dafür gewappnet sind und frage mich dann auch, inwieweit unser demokratisches System geändert werden muss, damit wir langfristiger denken können und eben auch die Lösungsansätze finden können, die wir brauchen.

[00:10:09] Kristina Appel: Jetzt gucke ich sehr viel Serien, es gibt so Dystopien und ich denke, wenn wir immer von der Zukunft reden und von der neuen Ordnung, dann denken wir immer, es wird auf jeden Fall besser oder wir wollen es besser machen. Wir arbeiten auf eine Utopie hin, aber die neue Ordnung könnte ja auch was anderes werden. Und wenn wir sehen, dass überall auf der Welt Frauenrechte beschnitten werden, dass Frauen nicht über ihren eigenen Körper, über ihre Stimme verfügen dürfen, dass Machtdemonstration bedeutet, Grenzen anderer Ländern einfach nicht mehr zu respektieren – dann frage ich mich: Ist die neue Ordnung dann wünschenswert? Wo setzen wir an, damit es wirklich besser wird?

[00:10:54] Sophie Pornschlegel: Ganz viele der Utopien sind eben so diese Macht… also reden sie nicht über Macht, weil sie dann eben Macht immer nur als Dominanz verstehen. Das muss aber nicht so sein und man darf natürlich nicht in das eine oder das andere Extrem verfallen. Also ich denke nicht, dass wir einer Utopie entgegenrennen, aber Dystopien müssen auch nicht sein. Es ist wirklich eine Frage der jetzigen Entscheidungen, die wir treffen. Und ich habe manchmal das Gefühl, dass es nicht ganz klar ist, dass es wirklich in unserer Verantwortung liegt und natürlich auch der Verantwortung der Politik, die natürlich bestimmte Faktoren mitdenken muss. Also es ist natürlich nicht einfach, es wird immer an die nächste Wahl gedacht. Man muss natürlich gucken, dass man verschiedene Akteure glücklich macht. Gleichzeitig ist es trotzdem eine Entscheidung, wo ich mir denke: Ihr habt hier Verantwortung und ihr seid dafür zuständig, ob wir in die Richtung von der Dystopie gehen oder in Richtung einer Utopie. Und was ich auch sehr schade finde, ist eben zu sehen, dass rechtsextreme Parteien doch ein sehr klares Zukunftsbild haben, mit sehr einfachen Lösungen zu sagen: Wir machen einfach unsere Grenzen zu. Ich meine jetzt, inzwischen macht es jetzt auch die SPD, aber gut… zu sagen, wir machen einfach zu. Alle Migranten bleiben draußen. Die sind ja auch übrigens die, die alle antisemitisch sind und böse und lügen. Und die deutsche Gesellschaft hat kein Problem damit, also schön das Problem zu externalisieren, sich selbst nicht in Frage zu stellen und dann zu denken, dass ist irgendwie die Antwort. Das ist natürlich zu kurz gedacht. Was ich aber leider sehe, ist, dass andere Parteien darauf aufsteigen und statt eine wirkliche Alternative zu zeigen zur Alternativen zu Deutschland eben dasselbe machen, halt aber ein bisschen softer, und eben diese Deutungshoheit dann trotzdem bei den Parteien bleiben, die tatsächlich eine Zukunftsvision haben, so schlimm sie auch ist. Und für mich ist sie schon dystopisch. Für andere vielleicht nicht, aber ich würde mir wünschen, dass wir eben auch im politischen Raum andere Zukunftsbilder und Positionen haben, statt halt eben nur so eine Weiterführung der gewohnten Ordnung, die ja nicht mehr ist, und andererseits dann aber eine Zukunftsperspektive, die für mich sehr dystopisch klingt und auch nicht machbar.

[00:12:53] Kristina Appel: Du schreibst in deinem Buch, die Politik hat verschiedene Instrumente zur Hand, um gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen und so Gestaltungsmacht zu werden. Was für Instrumente sind das denn?

[00:13:05] Sophie Pornschlegel: Also ich arbeite sehr stark im Brüsseler Kontext und da spricht man immer von Regulierung. Und natürlich gibt es dann irgendwie eine, zum Beispiel eine Kohlenstoff-Tax, also Steuer. Steuern sind natürlich ein typisches Instrument, damit kann man viel bewirken. Aber es sind ja auch Anreizsysteme, die man herstellen kann. Es geht ja nicht nur darum, Sachen zu regulieren und mehr Bürokratie zu machen, sondern man kann ja Anreizsysteme schaffen, damit sich Sachen verändern. Es geht auch um Förderungen. Also die Frage ist, welche Prioritäten gibt man wohin? Es werden trotz Klimakrise weiterhin fossile Energien subventioniert. Also es wird staatliches Geld reingegeben. Das sind Sachen, wo ich mir denke, wie kann es eigentlich noch sein? Und natürlich ist es dann ein Verhandlungsprozess. Natürlich mit verschiedenen Akteuren. Aber trotzdem wissen wir alle, dass es nicht die Lösung ist. Und zu glauben, dass die Politik nicht die Instrumente in der Hand hat, um Sachen nicht zu ändern, das ist falsch, weil das hat sie. Die Frage ist vor allem eine Frage des politischen Willens, der politischen, des politischen Muts und dann natürlich des Aushandlungsprozesses. Also man kann natürlich nie hundertprozentig das umsetzen, was man möchte in der Politik. Man muss immer für gucken, dass es für alle Parteien passt. So ist das natürlich in der Demokratie. Aber ich denke, dass der politische Wille auch nicht unbedingt da ist. Wenn ich vielleicht ein ganz konkretes Beispiel geben kann: Wir haben ja weiterhin die Schuldenbremse in dem Grundgesetz mit einem Finanzminister, der sehr stark darauf pocht, gleichzeitig aber bei Migrationspolitik sagt: Ja, die Genfer Konvention, das ist nicht ganz so wichtig, obwohl das internationales Recht ist. Also wir sehen, hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Und man vergisst dabei auch, dass die deutsche Schuldenbremse extreme Auswirkungen für den Rest der EU hat. Weil Deutschland ist die größte Wirtschaftsmacht in Europa bis jetzt. Die Frage ist, wie lange es das noch bleibt, wenn wir weiterhin eine Schuldenbremse haben. Also es ist relativ klar, dass wenn wir keine Investitionen tätigen, die europäische Wettbewerbsfähigkeit davon Schaden nehmen wird. Und das sind so politische Entscheidungen, wo ich mir denke, ich kann verstehen, dass man sagt, wir wollen keine weiteren Schulden machen, weil Generationengerechtigkeit, also diese Idee, aber das ist im falschen politischen Moment, also auch so ein Gespür dafür zu haben, was für Konsequenzen eigene Entscheidungen haben. Langfristig ist es extrem wichtig, auch zu verstehen, was man für eine Verantwortung hat gegenüber auch dem Rest von Europa als Deutschland. Und das ist mir in letzter Zeit nicht ganz klar geworden, oder ich hatte das Gefühl, sagen wir es so, dass die Ampelkoalition nicht unbedingt diese Verantwortung für Europa übernommen hatte, weil sie sehr viel mit sich selbst beschäftigt war. Aber das kann sich Deutschland nicht leisten.

[00:15:38] Kristina Appel: Ja, um noch mal auf von der gesamtgesellschaftlichen Ebene noch mal zum Individuum zu kommen: Machtlosigkeit führt zu Politikverdrossenheit und ich glaube, ganz viele Menschen, zumindest erlebe ich das in meinen Gesprächen so, fühlen sich nicht als Teil des Ganzen. Weil wir wissen, je reicher du bist, desto mehr wird deine Stimme gehört, desto mehr Einfluss hast du. Je weniger Bildung du hast, desto weniger wird deine Stimme gehört. Weil die Leute haben kein Interesse an deiner Meinung. Ich überspitze das jetzt sehr. Die Hans-Böckler-Stiftung spricht in ihrem letzten Report von den größten gesellschaftlichen Spaltungen, die es je gegeben hat. „Historisch hohe Spaltung“ ist das genaue Zitat. Reich und Arm, befugt-unbefugt, Menschen mit Gestaltungsmacht, Menschen ohne Gestaltungsmacht. Mit welchen Worten motivierst du im Gespräch, Menschen zu sagen: Ja, aber jetzt erst recht?

[00:16:27] Sophie Pornschlegel: Ich musste mich vor kurzem dran erinnern, wie ich mit 22 – da habe ich in England studiert und habe mit Engländern in Südlondon gewohnt. Und keiner von denen hat gewählt, die waren extrem politikverdrossen. Die haben auch nicht studiert gehabt unbedingt. Also das war sehr interessant, weil ich war natürlich jemand, der gerade Politikwissenschaft studiert hat im Ausland, der natürlich total vielleicht sogar noch utopischer war als jetzt. Wir können alles verändern! Ja, dieser extreme Optimismus einfach, und mit 22 schon Leute zu sehen, die nicht mehr wählen und gedacht haben, das ist doch eh alles dasselbe da oben, das war wahnsinnig interessant und auch sehr schwierig zu verstehen, als ich 22 war. Das hat sich leider nicht geändert. Also in England hatte man vielleicht ein bisschen früher diese Entwicklung, die wir jetzt haben, ich weiß es nicht, aber es ist definitiv keine einfache Sache. Und das Zweite, was ich mir wünschen würde in der politischen Debatte, und das macht jetzt Steffen Mau zum Beispiel sehr stark, ist auch einfach stärker auf diese Ungleichheiten einzugehen und was für Auswirkungen die auch auf die Politik haben. Weil, wenn ich mich erinnere, gab es eine Studie, ich weiß jetzt nicht mehr, ob von der Hans-Böckler-Stiftung oder von jemand anderen, die eben gesagt hat, dass wenn man sozioökonomisch schlechter dasteht, dann das direkte Auswirkungen auf das politische Engagement hat. Und je größer diese wirtschaftliche Spaltung auch ist in unserem Lande, desto stärker hat es eine Auswirkung auf die politische Spaltung. Und das heißt, es ist auch eine wirtschaftspolitische Entscheidung, wie wir das Geld verteilen und ob wir es in unsere Gesundheit investieren, in unsere Arbeitslosenversicherung, in unsere Sozialversicherungen, in Infrastruktur. Und das sollte nicht unabhängig davon gesehen werden, weil man kann von Demokratiepolitik sprechen, aber im Endeffekt geht es auch um wirtschaftspolitischen Fragen, die so ein bisschen verdeckt jetzt werden, finde ich von der ganzen Migrationsdebatte. Die Rechten waren sehr gut darin, das auch zu verbinden, also die Migrationspolitik mit Sozialpolitik zu verbinden, und zu sagen, die nehmen uns die Jobs weg, ich stehe schlechter da deswegen, also nicht nur, es hat auch eine kulturelle Komponente, aber die haben das sehr gut zusammengefasst und deswegen sollte man die nicht unterschätzen. Das sind extrem gute Politiker, leider, und da muss man große Angst davor haben.

[00:18:39] Kristina Appel: Ja, das größte Ablenkungsmanöver derzeit, finde ich. Wir sind ja hier auf einer Karrieremesse und ich dachte, wir nehmen das ganze Thema mal kurz mit ins Unternehmen, in den Mikrokosmos des Unternehmens. Jetzt hast du Hannah Arendt zitiert, die hat gesagt, jeder Mensch steht irgendwo in einem Machtverhältnis. Das heißt, das hat mir sehr vor Augen geführt, dass, wenn ich eine Praktikantin einarbeite zum Beispiel, dann habe ich die Macht, ihren Leben/Arbeitsalltag konstruktiv zu gestalten sozusagen. Jetzt gibt es aber ja in den Unternehmen wirklich meistens sehr klare Machtverhältnisse. Viele, viele, viele. Oder ich würd sagen, der Großteil der Unternehmen funktioniert noch als Hierarchie, was bedeutet, wir haben ein Organigramm. New Work möchte flachere Hierarchien, möchte das alles so ein bisschen aufweichen. Aber was, wenn es dann ein Machtvakuum gibt? Was, wenn keiner mehr sagt, wo es langgeht und dann die Ordnung verlorengeht, sozusagen? Was sind die Schritte, in der so eine neue Machtordnung vollzogen werden kann?

[00:19:42] Sophie Pornschlegel: Also grundsätzlich sind ja Machtverhältnisse nichts Schlechtes. Als Erstes ist die Frage, wie man diese Macht ausübt und ob die Machtverhältnisse sich auch ändern können oder nicht. Und ich bin selber jetzt in einer Managementposition und ich fand es sehr interessant, selbst zu sehen, dass auch Praktikantinnen natürlich bestimmte Erwartungen auch an einen haben als Leitung, an jemanden in der Leitungsfunktion, und das dann praktisch von beiden Seiten kommen muss, dass man eben nicht in diese alten Machtstrukturen verfällt, weil sie halt davon ausgehen. Also ich habe teilweise Praktikantinnen gehabt, die davon ausgingen, dass es so ist, weil es natürlich eine Leitungsfunktion ist, dass ich dann halt das vorgebe. Das ist natürlich eine Unsicherheit, die dann auch passieren kann, wenn man das eben nicht vorgibt und sagt, da musst du jetzt ja schon erst mal proaktiv mir was vorlegen, damit wir dann zusammen entscheiden können. Im Endeffekt trage ich dann natürlich die Verantwortung als Leitungsfunktion. Aber im Endeffekt kommt es dann trotzdem darauf an, auch selbst in diese Gestaltungsmacht reinzugehen. Und ich habe da echt auch lange gebraucht dafür. Ich habe in Frankreich studiert und da sind die Machtverhältnisse sehr klar. Also es ist sehr hierarchisch strukturiert, gerade in der Schule und es fängt auch schon bei der Schule an, es ist auch sehr schön, dieses Schüler-Lehrer-Verhältnis zu sehen, weil es kann sich ja umdrehen. Also es geht ja darum, dass der Lehrer was vermittelt und dann der Schüler oder die Schülerin irgendwann selber vielleicht mal Lehrer oder Lehrerin wird. Es ist ja, es gibt ein Machtgefälle schon, aber das kann sich umdrehen und das ist ein schönes Zeichen, wie das passieren kann. Ist natürlich nicht immer so, aber… dass man halt eben auch vielleicht einem oder allen Mitarbeitenden ein Verständnis dafür gibt, das Machtverständnis, also dass man sein eigenes Machtverständnis vielleicht auch umdenken sollte. Oder dass es eben auch bestimmte Gestaltungsspielräume gibt, die man ausnutzen kann.

[00:21:24] Kristina Appel: Also meinst du damit, wenn ich verstehe, dass ich in Zusammenarbeit mehr Gestaltung erreichen kann, und daher man sich deutlich mehr auf Augenhöhe begegnet, obwohl es vielleicht in der Positionsbeschreibung theoretisch ein Machtgefälle gibt?

[00:21:39] Sophie Pornschlegel: Also es gibt verschiedene Arten der Macht, also Schüler/Lehrer ist zum Beispiel ein Verhältnis. Es gibt ja auch formelle und informelle Macht. Also es gibt ja auch sehr schwache Chefs sozusagen. Und Personen, die halt innerhalb des Unternehmens dann zum Beispiel alle Informationen bekommen und dann dadurch auch eine Informationsmacht haben. Es sind verschiedene Arten der Machtrollen, die man haben kann in dem Unternehmen. Manche werden mehr angesehen als andere informellen, aber die sind genauso wichtig. Und das richtig zu verstehen, ist total wichtig aus meiner Sicht.

[00:22:06] Kristina Appel: Du hast vorhin die Macht des Kollektivs angesprochen und schreibst im Buch, kollektive Macht könnte zu einer gerechteren Arbeitswelt führen und zu einer größeren Selbstwirksamkeit der Arbeitnehmer:innen. In der Politik wiederum würde ein stärkeres kollektives Machtverständnis für mächtige Allianzen gegen Autokraten sorgen. Wie würde sich so was gestalten? Wie würde das dann aussehen?

[00:22:32] Sophie Pornschlegel: Ich weiß, es klingt alles sehr utopisch und idealistisch, aber wie man die herstellt, ist nicht einfach. Aber das hat eben mit diesem Machtverständnis zu tun, das man eben nicht Macht als individualistische, machiavellistische Macht, um dann seine eigene Macht zu erhalten und zu vergrößern, denkt, sondern eben: Wie kann ich mit anderen kooperieren, um bestimmte Interessen zu vertreten und Allianzen schmieden, um bestimmte Sachen voranzutreiben? Und das sieht man. Also es funktioniert ja, und bei Fridays for Future hat es sehr lange sehr gut funktioniert. Die haben, man merkt’s erst jetzt, habe ich das Gefühl, wie stark die eigentlich einen Effekt hatten auf die Klimapolitik. Also wenn wir den in Europa haben, dann war das aufgrund der Klimabewegung, das heißt, die haben, ganz typisches Beispiel, es extrem gut hinbekommen, kollektive Macht zu vereinen und Druck auszuüben. Und natürlich waren dann bestimmte Personen ein bisschen mehr in der Öffentlichkeit, aber es stand eine Bewegung dahinter. Und das ist ein sehr schönes Beispiel, wie kollektive Macht funktionieren kann. Die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus Anfang des Jahres waren auch ein schönes Beispiel dafür. Die Frage ist immer, wie man das dann kanalisieren kann und ob was daraus entstehen kann oder nicht. Funktioniert natürlich nicht immer, aber das ist ja auch das Schöne an der Demokratie, dass man eben diese Möglichkeit überhaupt hat. Also diese Möglichkeit, protestieren zu können, Versammlungsfreiheit, politische Parteien herzustellen, das sind eben diese kollektiven Machtstrukturen, die existieren und die wir in der Demokratie ausnutzen können. Und die gibt es eben in autoritären Staaten nicht mehr. Und das ist gerade dieses Tragische, was wir… also ich kenne nur Frankreich und Deutschland sehr gut. Da hat man so lange in der Demokratie gelebt, dass man es teilweise nicht mehr mitbekommt. Aber wenn man sich mit Ungarn etwas beschäftigt, dann weiß man, wie schnell das vorbei sein kann. Dort ist es schon so, dass es keine freien und geheimen Wahlen mehr gibt. Das haben internationale Wahlbeobachter 2022 schon gesagt. Das heißt, es gibt keinen Parteienpluralismus mehr, es gibt keine unabhängige Zivilgesellschaft mehr, und diese Sachen haben wir nicht mehr. Diese Möglichkeit, eben kollektive Macht auszuüben. Wir haben jetzt kaum über Feminismus gesprochen, aber dieses Machtverständnis, dieses machiavellistische ist ja extrem von toxischer Männlichkeit geprägt. Also es war auch ganz interessant, als ich, ich glaube, das war sogar Machiavelli, der dann sagte, dass Frauen irgendwie dafür zuständig sind, dass sie die Staaten in den Ruin treiben. Der hatte in seinen Büchern sogar…

[00:24:50] Kristina Appel: Er war ein Fan, ja.

[00:24:51] Sophie Pornschlegel: Also es war extrem interessant, weil es halt eben auch diese politische Macht ist ja als was öffentlich Gesehenes, die Frauen immer schön im Privaten, dass Frauen manipulieren und deswegen halt eben nicht ehrlich mit Macht umgehen können. Das war so dieses Verständnis von macchiavellistischer Macht, die teilweise immer noch da ist. Also wenn wir so wenig Frauen in der Politik haben und in öffentlichen Positionen, dann hat es natürlich auch damit zu tun. Und genau diese toxische Männlichkeit hat definitiv was damit zu tun. Genauso wie die Privilegien, Privilegien, dass bestimmte Menschen sich eher in Machtpositionen sehen als andere. Und deswegen finde ich es sehr schön, wenn wir – am Ende höre ich auch mit Bell Books auf – also Hannah Arendt und Bell Hooks, ich versuch wirklich auch, nicht zu viele Männer zu zitieren, was echt nicht einfach war bei Macht, weil so viel darüber gesprochen wurde, dass es nur Männer waren. Aber dieses Verständnis auch, Macht nicht aus Angst heraus zu gestalten, sondern aus Liebe heraus und Bell hooks hat ein wunderschönes Buch geschrieben, dass ich wirklich allen empfehle. „All about love“ heißt es, wo es darum geht, eben Macht nicht nur im Romantischen und im Privaten zu sehen, sondern eben auch als öffentliche Sache und man tatsächlich auch aus Liebe für eine Gesellschaft, was jetzt auch sehr utopisch klingt, aber aus diesem Verständnis heraus Macht auszuüben. Und ich hab versucht, es so ein bisschen zu verbinden, weil wir sehen gerade ein Machtverständnis, das sehr stark auf Angst positioniert ist.

[00:26:07] Kristina Appel: Jetzt haben wir eine Frage aus dem Publikum.

[00:26:09] Zuschauerin: Jetzt ist ja Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin. Da hat man den Eindruck, dass sie eher sehr fokussiert ist. Und als politischen Laien fällt es einem einfach schwer, dieses ganze System mit diesen Kommissaren oder der Kommission zu verstehen. Und wie da die Pöstchen auch verschachert werden an Leute, die ohnehin schon in Geld schwimmen oder unter Umständen auch sich den Posten kaufen. Mich würde interessieren: wie nah bist du da dran? Kannst du da was dazu sagen? Was läuft da in Europa eigentlich ab, was eigentlich nix mehr mit Demokratie zu tun hat oder, sagen wir mal, wenig. Da würde ich deine Meinung gern hören.

[00:26:53] Sophie Pornschlegel: Ist immer interessant, weil wenn ich über Europa spreche, nicht in Brüssel, komme ich immer in die Position, Europa zu verteidigen. Was mich ein bisschen nervt, weil ich selber relativ kritisch damit umgehe. Aber was ich immer zunächst sagen würde, ist, dass Europa nicht antidemokratischer ist als auf nationaler Ebene. Also die Korruptionsskandale, die wir in Brüssel sehen, die gibt es auch in Deutschland. Mit der Aserbaidschan-Affäre zum Beispiel, die hat man auch schön unter den Teppich gekehrt. Katar-Gate ist definitiv problematisch. Es ist alles extrem problematisch, aber es ist nicht schlimmer in Brüssel. Nur um das vorab zu sagen. Und ja, von der Leyen wurde sehr stark kritisiert dafür, dass sie Macht sehr stark zentralisiert hat, dass sie auch machiavellistisch damit umgeht. Ich frag mich immer so ein bisschen, zum Beispiel Politico war da extrem kritisch. Darf man nicht vergessen, dass die auch Axel Springer gehören übrigens, und vielleicht auch eine politische Agenda haben. Aber das ist jetzt ein bisschen in Brackets. Die Frage ist immer so ein bisschen: Ich frage mich immer, ob das dann Sexismus schon ist oder ob es stimmt. Und ich glaube schon, dass die eine extrem gute Politikerin in dem Sinne ist, dass sie weiß, wie sie ihre Macht nutzen kann in dem System, das das ist, was es ist. Und sie hatte es in den letzten fünf Jahren nicht einfach, weil Charles Michel, der Ratspräsident, wirklich sehr sexistisch war. Vielleicht erinnern sich einige an die Foto-Gate-Affäre, wo er ihr nicht mal den Platz gelassen hat in der Türkei beim Erdoğan-Besuch. Also so, dieses Image war einfach auch eine absolute Katastrophe und die hat es wirklich nicht einfach gehabt, weil sie halt eben auch sehr viel Macht hat. Und eine Frau ist in der Position, die auch nicht einfach ist, weil sie halt eben auch vor allem mit den Regierungen sehr viel zu tun hat. Und zwar mit Macron, mit Scholz, aber auch anderen, die halt eben auch alle was zu sagen haben. Ich will sie jetzt gar nicht so sehr verteidigen, weil ich finde, dass das nicht unbedingt was Gutes ist, wenn man diese Macht zentralisiert. Und was die Kommissare angeht, vielleicht einfach nur sehr faktisch gesehen, die werden nominiert von den verschiedenen Regierungen Europas. Es hängt natürlich sehr stark daran, wie die Regierungen auf Europa blicken. Und wenn sie sagen, ich schicke da jemanden hin, der korrupt ist und so ein bisschen als Abstellgleis, dann kann leider Frau von der Leyen wenig machen. Sorry, sehr lange Antwort. Aber wenn es um Europa geht, rede ich viel und gerne.

[00:29:02] Kristina Appel: Wenn wir jetzt sagen, wir haben hier alle Machtverhältnisse, weil wir große Schwestern sind und Tanten und Mütter und Lehrerinnen und Chefinnen und so was – wie trage ich im Alltag dazu bei, dass sich Machtverhältnisse konstruktiver gestalten?

[00:29:18] Zuschauerin: Im Endeffekt habe ich natürlich immer die Frage auch nach, was man individuell machen kann. Wobei ich schon sehr stark darauf eingehe, dass mir dieses Kollektive sehr wichtig ist, weil wir viel zu oft in einer sehr individualisierten Gesellschaft leben, wo es wirklich sehr viel ums Individuum geht und nicht so sehr um das Kollektive. Aber im Endeffekt sind es ja die Menschen, die gestalten. Das will ich vielleicht mitgeben, sich wirklich hinzusetzen und zu fragen: Was sind eigentlich die Werte, die mein Machtverständnis ausmachen? Will ich den Leuten Angst machen? Ist es mein Druckmittel oder wie nutze ich praktisch meine Macht aus? Sowohl im Freundeskreis als auch bei der Arbeit, oder wenn man sich ehrenamtlich engagiert. Oder versuche ich so das Beste aus den Leuten rauszukitzeln, würde ich schon fast sagen? Also das ist ja genau dieser Punkt. Wir können Macht nicht wegdenken und wir sollten sie auch nicht unter den Teppich kehren, sondern wirklich überlegen: Was ist mein Verständnis, wie nutze ich es und wie möchte ich es nutzen, wenn ich merke, okay, es ist nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe. Und deswegen auch diese Frage nach den Werten oder nach dem moralischen Kompass. Und zweitens: Ich unterscheide es auch sehr stark mit Moralisierung, weil ich denke nicht, dass andere Leute zu moralisieren irgendwie dabei hilft. Wir haben schon eine Tendenz, es auch stark zu tun, finde ich in der öffentlichen Debatte, sondern hier eher zu fragen: Wo ist mein moralischer Kompass und passt der eben mit meinem Machtverständnis zusammen oder nicht? Diese Frage sich zu stellen und vielleicht auch einfach mit anderen oder unter Freundinnen und Freunden das Thema auch einfach anzusprechen und ein bisschen das zu enttabuisieren, würde ich sagen, um zu sagen: Ja, wir leben in einer Gesellschaft, wir werden Machtverhältnisse haben, wie möchten wir diese Machtverhältnisse gestalten? Was sind auch meine Rollenbilder? Also ich spreche von der ehemaligen neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern, die auch gesagt hat: Ich habe nicht mehr genügend im Tank und ich gehe jetzt raus aus der Politik, weil ich das nicht mehr kann. Das ist auch mutiger Schritt, will ich sagen. Die wurde auch sehr stark dafür kritisiert, da haben andere gesagt, ja, jetzt steht ihre Partei so schlecht da, wenn sie weggeht. Aber ich denke, das war auch ein wirklich wichtiger Moment, um zu sagen, wenn sie merkt, sie kann nichts mehr dazu beitragen, dann hört sie auf. Also das war auch ein Machtverständnis, wo sie auch aus Empathie heraus regiert hat, wo ganz viele Leute gesagt haben: Oh Gott, das kann ja überhaupt nicht funktionieren. Und das war für mich so ein Rollenbild, das ich gerne mehr in der Politik sehen würde.

[00:31:28] Kristina Appel: Sophie, vielen, vielen Dank.

[00:31:30] Sophie Pornschlegel: Ich danke dir.